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Archiv-Artikel

Kanzlerkandidatin gegen Jesus

Angela Merkel darf weiterkämpfen. Aus Vernunftsgründen halten sich die Brutusse in der Union zurück. Niemand beneidet die Chefin um den Clinch mit Schröder. Die Jamaika-Koalition ist für alle nur eine Option

AUS BERLIN LUKAS WALLRAFF

Gewonnen ist gewonnen. Und sei es noch so knapp. Deshalb darf Angela Merkel weitermachen. Vorerst. „Wir haben 450.000 Stimmen mehr als die Sozialdemokraten“, stellt die Kanzlerkandidatin der Union am Tag nach der Wahl fest. Es ist ihr einziges Argument, um ihren Posten zu behalten. Nur die paar Prozentpünktchen Vorsprung vor der SPD haben sie vor einem Putschversuch bewahrt. Weil die Union wenigstens noch stärkste Fraktion im Bundestag geworden ist, reißen sich die potenziellen Brutusse am Tag nach einer Wahl zusammen, die für Merkel ein Desaster war. „Einmütig“ erteilen die CDU-Ministerpräsidenten ihrer Kanzlerkandidatin im Parteipräsidium den Auftrag, eine Regierungsbildung zu versuchen. Der Dolch bleibt im Gewande.

„Alle stehen hinter Angela Merkel. Sie wird Kanzlerin“, sagt Christian Wulff, bevor er in sein Auto steigt. Der Niedersachse und seine Kollegen sind Kopfmenschen. Sie wissen: Merkels Ergebnis spricht für sich. Die Kandidatin ist nicht nur mit dem Versuch kläglich gescheitert, die lange sicher scheinende schwarz-gelbe Mehrheit zu erreichen. Sie hat sogar Edmund Stoibers Ergebnis deutlich unterboten und 1 Million Stimmen weniger für die CDU geholt als Helmut Kohl bei seiner Abwahl. Dazu muss man jetzt nichts sagen, darauf kann man bei passender Gelegenheit hinweisen. Zum Beispiel, wenn Merkel keine Mehrheit für ihre Kanzlerinnenwahl zustande bekommt und ein neuer Kandidat gesucht wird.

Um die Aufgabe, nach dieser Wahl mit dem wild gewordenen Gerhard Schröder oder den Grünen über Koalitionen zu verhandeln, beneidet Merkel niemand. Da lässt man sie lieber erst mal machen und wünscht öffentlich viel Glück. Außerdem kennen Wulff & Co. die Etikette, die in der Union immer noch hochgehalten wird. Eine Wahlsiegerin – und das ist Merkel trotz allem, jedenfalls mathematisch – muss eine Chance bekommen. Und sei es ihre letzte. Selbst Merkels engste Freunde in der Fraktion wollen „keine Wetten mehr“ eingehen, dass Merkel die Koalitionsverhandlungen als Kanzlerin beendet, dass sie ihre Wahlniederlage – und das ist das Ergebnis, jedenfalls politisch – übersteht. Aber: „Wenn man stärkste Partei in Deutschland wird“, sagt Bernhard Vogel, Altministerpräsident und Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, „dann ist das wirklich kein Grund, einzupacken“. In diesem Sinne äußern sich alle Ministerpräsidenten. Merkel habe einen klaren Regierungsauftrag und werde unterstützt, sagt Peter Müller aus dem Saarland. Sagt Georg Milbradt aus Sachsen. Sagt auch Roland Koch aus Hessen. Alle sprechen völlig unbefangen über die „Option“, auch mit den Grünen über eine Koalition zu reden. Als hätten sie die Grünen nicht gerade erst im Wahlkampf als verrückte Blockierer und durchgeknallte Öko-Freaks bespottet, denen ein Hamster wichtiger sei als Wohlstand und Wachstum. Egal. Das politische Hamsterrad der Taktierer dreht sich weiter. Von einer großen Koalition wollte Merkel vor der Wahl ja auch nichts wissen. „Schwarz-Gelb-Grün ist eine der verhandlungsfähigen Möglichkeiten“, sagt Vogel. Sagt so ähnlich auch Koch. Sagt Müller. Und alle empfehlen der Unionsfraktion im Bundestag, Merkel heute als Vorsitzende im Amt zu bestätigen. Weil es die Vernunft gebietet. Über ein vorschnelles Hauen und Stechen in der Union würde sich vor allem einer freuen: Schröder. Und diesen Gefallen wollen ihm die Unionsfürsten nicht tun. „Je mehr Schröder auf den Putz haut“, sagt Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust, „desto mehr schweißt das zusammen.“ Jedenfalls die Kopfmenschen in der Union.

Karl-Josef Laumann ist ein Bauchmensch. „Die Partei war zu wenig für die Arbeitnehmer da“, sagt der Vorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels CDA, als er zur Präsidiumssitzung kommt. „Das ist in diesem Wahlkampf sträflich vernachlässigt worden.“ Es habe ein Schattenkabinett gegeben, in dem kein einziger Sozialpolitiker vertreten gewesen sei. Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister kriegt sich gar nicht mehr ein. Er kritisiert weiter, die Union sei im Wahlkampf zu einseitig aufgestellt gewesen. „Diejenigen, die das toll fanden, haben mit der Zweitstimme auch noch FDP gewählt.“ Am Ende seiner Wutanfalls fordert Laumann: „Die CDU muss sich besinnen, wo sie herkommt.“

Ole von Beust hält ihm sofort entgegen: „Ich warne vor Heldentum nach Ladenschluss.“ Wenn Laumann etwas am Programm der Union nicht gefallen habe, hätte er es „vorher äußern“ sollen. In der Tat hatte Laumann seinem Namen lange Zeit alle Ehre gemacht, als die Union Kopfpauschalen und Steuersenkungen für Spitzenverdiener beschloss. Unter seiner Regie sind die CDU-Arbeitnehmer in der Bedeutungslosigkeit versunken. Wer nach der Wahl nur von solchen Gegnern laute Kritik zu hören bekommt, braucht keine Freunde. Merkel wird versuchen, ihre letzte Chance zu nutzen. Allein.