Die Stunde der Politik

Nach großen, Ampel- und Jamaika-Koalitionen zu suchen, ist altes Denken und bringt nicht die ersehnte Regierungsstabilität

VON DANIEL COHN-BENDIT
UND CLAUS LEGGEWIE

Wer soll bloß den gordischen Knoten dieser unmöglichen Koalitionsbildung durchhauen? Die Antwort ist nicht sonderlich schwer: Wenn es keinen vorparlamentarischen Durchgriff der (schwachen!) Kanzlerkandidaten Merkel und Schröder gibt, entscheidet der Deutsche Bundestag mit der Mehrheit seiner Abgeordneten. Bundespräsident Köhler wird als Erstes den Kandidaten vorschlagen, der die meisten Mandate hinter sich hat, was auf eine große Koalition unter Angela Merkel hinausläuft, sofern einige sozialdemokratische Abgeordnete Schröder den Laufpass geben.

Bleibt die SPD-Fraktion geschlossen, kann der amtierende Kanzler in geheimer Wahl eine Mehrheit bekommen und eine wie auch immer gefärbte Regierung führen oder eine rot-grüne Minderheitsregierung fortführen, die sich Mehrheiten im Bundestag holen muss, wo immer (und so lange) sie kann. Schlägt auch dieser Versuch fehl, obsiegt ein Kandidat X mit relativer Mehrheit, den der Bundespräsident nicht akzeptieren muss. Wenn nicht, löst er den Bundestag auf, Neuwahlen in 2006 sind die Konsequenz.

Chaos, Instabilität, der stets erwartete „Hauch von Weimar“? So geht der Pawlow’sche Reflex der alten Bundesrepublik, die sich nach dem stabilen Volksparteiensystem zurücksehnt. Doch haben beide großen Volksparteien mittlerweile weniger als siebzig von hundert Wählern hinter sich – was im europäischen Maßstab sogar viel ist, denn andernorts ist die Fragmentierung noch weiter vorangeschritten. Deshalb funktioniert das übliche Muster der Koalitionsbildung auch in unserem Fünfparteiensystem nicht mehr, die herkömmliche Koalitionsdebatte wird zum Anachronismus. In schöner Ordnung haben sich in Deutschland drei gleich starke Orientierungsparteien im Bundestag festgesetzt: die Grünen/Bündnis 90 als liberale Sozialökologen, die von Westerwelle und Möllemann gewendete FDP als neoliberale Totengräber des Sozialstaates, die linksnationalen Altkeynesianer als dessen Bewahrer (eine rechtsradikale Bundestagspartei ist Deutschland erspart geblieben).

Die drei „Kleinen“ bieten in sich konsistente (und konträre) Programme an und werden dafür (nebst anderen inhaltlichen und Funktionsgründen) gewählt. In anderen EU-Ländern haben rechts- oder linksliberale Kleinparteien schon Aufträge zur Regierungsbildung bekommen und zufriedenstellend ausgefüllt.

Bei uns nun verzweifelt nach großen, Ampel- und Jamaika-Koalitionen zu suchen, ist altes Denken und bringt nicht die ersehnte Regierungsstabilität. Denn ausgerechnet diese Konstellationen weisen die kleinsten Schnittmengen auf, größer sind sie lediglich bei dem, was momentan partout nicht hinhaut: Schwarz-Gelb, Schwarz-Grün und Rot-Rot-Grün. Solange es politische Alternativen zur großkoalitionären Stagnation gibt, soll man sie nutzen, und nur so kann die Gesellschaft das vermeintliche Chaos der Regierungssuche nutzen, um sich über die Gangbarkeit politischer Alternativen Klarheit zu verschaffen, das heißt: entweder das neoliberale Reformvorhaben abklopfen oder seine linke Negation konkretisieren oder die Allianz von Wertkonservativen und Ökologen, die seit den 1980er-Jahren in der Luft liegt, auf den Boden der Tatsachen holen.

Wer das für Fantasterei hält, braucht bloß an eine nächste Landtagswahl zu denken, wenn der Spitzenkandidat der Union beispielsweise Klaus Töpfer hieße und die Vorfrau der SPD Andrea Nahles. Gebetsmühlenartig wiederholt die politische Klasse, dieser könne unmöglich mit jenem, ein Beckstein vertrage sich niemals mit Trittin, dabei dürfte die Distanz zwischen Schily und Wieczorek-Zeul objektiv größer gewesen sein. Aber lassen wir das übliche Klein-Klein. Klaus Töpfer als Chef der UN-Umweltbehörde denkt ökologisch radikaler als mancher Bündnisgrüne, und ein handfester Koalitionskrach über den Zeitpunkt des Atomausstiegs, über die Wünschbarkeit von Bio- und Medizintechnik oder über die Nachhaltigkeit des Generationenvertrages zwischen schwarzen und grünen Modernisierern auf der einen Seite und schwarzen wie grünen Schöpfungsbewahrern ist nichts, was man politisch unter allen Umständen vermeiden soll. Es ist vielmehr ein produktiver Streit, der bisher durch Lagerbildung und gegenseitige Abschottung vermieden wurde.

Auch eine Mehrheit links von der Union und den Liberalen müsste sich bewegen, da ist der italienische Altkommunist Fausto Bertinotti (der die „Olive“ nicht mochte und Italien dafür Berlusconi einhandelte) dem fröhlichen Verhinderungsgespann Lafontaine/Gysi um Längen voraus. Auf eine linksnationalistische Ressentimentbewegung kann Deutschland verzichten, eine echte linkssozialistische Alternative hingegen wäre politisch produktiv und gerade darum auch bis zur Mitte bündnisfähig. Doch hier zu Lande träumen immer noch viele von einer Wiedervereinigung der rosa, grünen und roten Sozialdemokratie, die dann wieder über Parteitagsbeschlüsse regieren soll. Stattdessen muss die aktuelle Übergangsperiode genutzt werden, die wirklichen Reformalternativen herauszuarbeiten.

Die Grünen, schon auf dem Weg in die Opposition und von manchen als „fünftes Rad am Wagen“ abgetan, haben in einem offeneren Spiel durchaus Chancen – sie können sich, da sie von allen Seiten gebraucht werden, teuer verkaufen und als echte Reformpartei aufstellen. Dazu müssen sie dem vermeintlichen Machiavellismus des übermütigen Kanzlers eine kluge Machiavellische Alternative entgegensetzen, das heißt: sich aus dem Prokrustesbett von Rot-Grün erheben und als eigenständige Protagonisten der sozial-ökologischen Erneuerung auftreten. Schnee von gestern?

Nie waren ökologische Fragen im weiteren Sinne so offensichtlich bedeutsam wie heute, und die Grünen müssen diesbezüglich wieder eine Vorreiterrolle und Meinungsführerschaft anstreben, um die fade und lähmende Scheinalternative „Mehr Markt!“ versus „Mehr Staat!“ obsolet und in der Folge politische Bündnisse möglich zu machen, die der postindustriellen Entwicklung angemessen sind und im Übrigen der am vergangenen Wochenende eindrucksvoll dokumentierten Diversität der heutigen Wählerschaft entsprechen.

Entschieden wird also besser nicht top-down, aus den Parteizentralen heraus und nach einer konventionellen Farbenlehre, sondern in Erfüllung eines komplizierten „Wählerauftrags“ im Deutschen Bundestag. Gegen die Schröder’sche Kanzlerdemokratie – mit ihren Chefsachen, Kommissionen und gefühlten Mehrheiten – muss man die ramponierte parlamentarische Demokratie stärken. Auf Dauer diktieren ohnehin nicht mehr die Parteikartelle der schwachen Großen die Spielregeln, und im Europäischen Parlament wird gelegentlich vorexerziert, wie man auch mit variablen Mehrheiten vernünftig Politik macht. Es gibt einen untergründigen Trend zur Europäisierung der politischen Systeme und Usancen, ein Referenzraum europäischer Öffentlichkeit und Kommunikation wächst zusammen, ohne dass es den nationalen Akteuren immer klar wäre. Es wäre gut, wenn die Grünen auch in dieser demokratiepolitisch bedeutsamen Frage nicht links oder rechts, sondern vorn wären.