„Erneuerung nur mit EU-Perspektive“

Die Türkei gehört nach Europa, und alle profitieren davon, sagt Bülent Arslan, Chef des Deutsch-Türkischen Forums in der CDU. Er rät seiner Partei, auf das Land am Bosporus und besonders auf in Deutschland lebende Türken zuzugehen

taz: Herr Arslan, sind Sie mit dem Verhandlungsergebnis zwischen der EU und der Türkei zufrieden?

Bülent Arslan: Ich denke, dass den Interessen Deutschlands und der Türkei gedient wird – vor allem auch den Beziehungen zwischen den Ländern. Es kommt nun zu Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft. Sie werden mindestens zehn Jahre dauern, und sie sind ergebnisoffen. Der Ball liegt auf türkischer Seite.

Sind Sie erleichtert?

Ich verbinde mit dieser Entscheidung die Hoffnung, dass die große Aufregung über das Thema sich jetzt bald verliert. Das ist nötig.

Was haben die Österreicher für ein Problem mit der Türkei?

Das hat, glaube ich, zwei Gründe: Erstens befanden die sich im Landtagswahlkampf, und zweitens ging es dabei viel mehr um Kroatien als um die Türkei. Aber das hinterlässt natürlich Spuren in der Türkei. Glücklicherweise betrifft uns das in Deutschland ja nicht.

Uns betrifft dagegen die Frage nach dem nächsten Kanzler. Wer wird es?

Ich gehe fest davon aus und wünsche mir, dass es Frau Merkel wird.

Frau Merkel hat sich allerdings gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ausgesprochen.

Frau Merkel hat aber auch gesagt, dass bestehende Verträge eingehalten werden müssen. Ich gehe davon aus, dass eine neue Bundesregierung die Verhandlungen konstruktiv begleitet und eben nicht torpediert. Aber: Sie wird darauf achten, dass Vorgaben auf türkischer Seite eingehalten werden.

Für die Türken sind die EU-Verhandlungen eine Frage der Ehre. Warum?

Eine der Ursachen ist, dass die Türken seit ungefähr 200 Jahren einen Weg in Richtung Europa gehen. Das hat in der osmanischen Zeit angefangen und wurde mit Atatürks Reformen verstärkt. Die Vollmitgliedschaft in der EU wäre die Vollendung dieses Projekts.

Was wären denn die Vorteile einer Vollmitgliedschaft – für beide Seiten?

Man kann wirklich sagen, der Weg ist das Ziel – er ist wichtiger noch als die Mitgliedschaft. Die Türkei ist in ihren Grundsätzen ein demokratisches, rechtstaatliches und marktwirtschaftliches Land. Aber es gibt in all diesen Bereichen noch große Probleme. Die Türkei entwickelt und erneuert sich nur mit der EU-Perspektive. In den letzten Jahren hat sich das Land massiv stabilisiert. Es gab wirtschaftlichen Aufschwung mit Wachstumsraten von über fünf Prozent. Die Verhandlungen werden diesen Prozess politisch und wirtschaftlich forcieren. Die Türkei ist so etwas wie das China Europas, mit einem riesigen Markt, einer jungen Bevölkerung und guten Produktionsbedingungen.

Danach wäre die Türkei ein Konkurrent in der EU?

Europa wird wirtschaftlich profitieren, aber in erster Linie sollte der friedenspolitische Aspekt im Vordergrund stehen. Es ist die Chance, sich erstmals an ein muslimisches Land zu binden. Hier sollten wir uns an den ursprünglichen europäischen Einigungsgedanken erinnern: Es ging um Frieden auf dem Kontinent. Heute geht es im Nahen Osten um den Frieden. Hier braucht Europa Vermittler. In der islamischen Welt herrscht das Vorurteil, dass sich Europa als eine geschlossene Gesellschaft sieht. Wenn man die Türken mit ins Boot holt, könnte man mit diesem Vorurteil aufräumen.

Welche Probleme müssen in der Türkei gelöst werden?

Da kommt schon einiges zusammen. Ein Punkt ist das türkische Militär, das eine sehr starke Stellung hat – gerade auch wirtschaftlich, es ist an vielen Unternehmen beteiligt. Ein anderer Punkt ist die Marktwirtschaft. Die Privatisierung von Unternehmen muss vorangetrieben werden. Aber: Die Türken haben auch Angst, für die EU ihre nationale Seele zu opfern.

In Ihrer Aufzählung fehlt die Frage der Menschenrechte. Und die ist problematisch.

Hier gibt es Nachholbedarf, aber man darf den kulturellen Kontext nicht vergessen. Mit der Republik wurde das Staatsprinzip des Nationalismus eingeführt. Der Bevölkerung wurden in der Schule, der Armee, den Medien bestimmte Sichtweisen eingetrichtert. Dazu gehören die Armenienfrage, die Kurdenfrage und die absolute Unteilbarkeit des Landes. Das kann man nicht von heute auf morgen ändern. Dafür braucht es mutige Leute, die sich nach vorne wagen. Jemand aber, der in der Türkei Politik macht, kann nicht zu den Vorreitern gehören. Er würde scheitern. Politiker müssen einen Spagat vollführen. Das hat in den letzten Jahren überraschend gut funktioniert.

In Österreich wurde gegen die Türkei gewettert, aber gerade auch Ihre Partei, die CDU, hat mit der Türkeifrage populistische Wahlkämpfe betrieben, um möglichst auch noch die letzte Stimme am rechten Rand abzufischen.

Auch die deutsche Öffentlichkeit geht sehr emotional mit dem Thema Türkei um. Negative Schlagworte sind islamischer Terrorismus, Ehrenmorde und Zwangsheiraten. Aber: Mit ihrer emotionalen politischen Ansprache hat sich die CDU bei den in Deutschland lebenden Türken viele Türen verschlossen – jedoch keine nennenswerten Stimmengewinne bei den Deutschstämmigen verzeichnet.

Ist ein Strategiewechsel nötig?

Die CDU müsste ein nationalkonservatives Publikum binden, aber unter dem wachsenden Potenzial türkischstämmiger Deutscher Unterstützung suchen. Hier machen wir als CDU zwei fundamentale Fehler. Zum einen meinen wir, dass konservative Positionen der CDU die Türken nicht ansprechen. Das ist falsch. Gerade unsere Linie für einen innenpolitisch starken Staat, für die absolute Priorität von Familien, für die Zurückhaltung bei gleichgeschlechtlichen Partnerschaften und sogar für eine Begrenzung der Zuwanderung sind mehrheitsfähige Positionen unter den Türken. Zum anderen glauben wir, dass die Türken zu 80 Prozent traditionell links seien. Das ist ein Klischee. Umfragen zeigen, dass in Deutschland mindestens 60 Prozent der Türken konservativ sind. Das Potenzial ist gerade für die CDU enorm.

Gibt es Strategien, dieses Potential zu nutzen?

Jürgen Rüttgers hat in Nordrheinwestfalen den ersten deutschen Integrationsminister eingeführt. Die CSU hat sogar eine türkischsprachige Homepage. Günther Beckstein beispielsweise ist einer der besten Türkenkenner in Deutschland. In seiner Funktion als bayrischer Innenminister muss er damit allerdings vorsichtig hantieren.

Das ganze Thema wäre in Deutschland vermutlich weniger brisant, wären die Türken besser integriert. Was ist falsch gelaufen?

Beide Seiten sind zu lange davon ausgegangen, dass sie nur befristet nebeneinander her leben. Auf deutscher Seite hat man oft unter dem Toleranzmantel Gleichgültigkeit gezeigt. Hinzu kommt eine entgegengesetzte Vorstellung von Integration. Die meisten Deutschen wünschen sich Assimilation, die meisten Türken wollen möglichst originär türkisch bleiben. Es kommt ein Problem hinzu: Die Deutschen sind kopfgesteuert. Nach dem Motto: Wir geben den Türken Sprachkurse, dann läuft die Integration. Aber das ganze muss auch über den Bauch gehen, die Leute müssen sich wohl fühlen.

INTERVIEW: TIM FARIN
CHRISTIAN PARTH