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Archiv-Artikel

Bald werden Köpfe rollen

Im Ringen um die Regierungsmacht scheint es weniger um Inhalte als um die Vermeidung von Gesichtsverlust zu gehen. Denn wer jetzt verliert, hat auch alle weiteren politischen Chancen verspielt

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Dass Politiker – wie andere Menschen auch – mitunter den Kopf verlieren, ist nichts, was einen in besonderes Erstaunen versetzen könnte. Dazu wird diese Fähigkeit nur allzu oft bewiesen. Denn den Kopf zu verlieren kann durchaus, gegen die Basisannahmen des gesunden Menschenverstands, als Fähigkeit begriffen werden. Wie der berühmte Spruch beweist, demzufolge derjenige keinen Kopf besitzen könne, der ihn bei bestimmten Anlässen nicht verliere. Den Kopf zu verlieren ist irgendwie menschlich – nicht immer oder unbedingt Anlass zur Scham.

Verlust nach Wahlverlust

Derzeit geht in der Republik ziemlich viel verloren, nicht nur der eine oder andere Kopf: Nach einer Wahl, die keinen rechten Sieger sah, scheinen die Versuche der unterschiedlichen Verlierer, sich doch als Gewinner zu präsentieren, mit eherner Notwendigkeit weitere Verluste nach sich zu ziehen. Nachdem schon einiges an Anstand, Würde oder, um weniger hochtrabende Begriffe zu verwenden, an Fairness und Sachlichkeit im Umgang mit der schwierigen Situation auf der Strecke geblieben ist, hat man nun ein neues attraktives Verlustobjekt entdeckt: das Gesicht.

In den derzeit unter dem Titel „Sondierungsgespräche“ geführten Verhandlungen zwischen den Parteien scheint es um kaum etwas anderes zu gehen als darum: Dies oder jenes sei nur um den Preis des Gesichtsverlusts zu machen, erfahren wir beinahe täglich von den aufgekratzten Verhandlungsführern. Wie es scheint, sind sowohl Sach- als auch Personalfragen inner- wie interfraktionell mit hochgradig aufgeladenen Kränkungen verknüpft. Das Gespenst der Demütigung schwebt sichtbar durch den politischen Raum.

Hat es uns kollektiv nach China verschlagen? Tatsächlich ist das Phänomen des Gesichtsverlusts eine Spezialität von so genannten Schamkulturen, die wir vor allem im ostasiatischen Raum kennen. Die Angst vor beschämender Entblößung ist insbesondere in Gesellschaften angesiedelt, in denen die Öffentlichkeit permanent präsent ist: Gesellschaften, die wenig Privatsphäre zulassen und einem formalisierten Verhaltens- und Ausdrucksstil frönen. Eine Verletzung der öffentlichen Form wird hier als „Verrat an den Normen“ angesehen, der Verletzung folgen Schande und Gesichtsverlust. Agnes Heller hat solche Gesellschaften als Schamgemeinschaften gekennzeichnet, in denen ein starkes kollektivistisches Wir-Bewusstsein auf der Grundlage der Unantastbarkeit der grundlegenden Rituale entsteht: diese besitzen absolute Gültigkeit und dürfen nicht hinterfragt werden, selbst wenn ihre Irrationalität offensichtlich ist.

Die abgeschottete Klasse

Sollte es am Ende darum auch im Verhandlungspoker der vereinigten Verlierermächte gehen? Immerhin, der „Souverän“, das Volk, hat seine ihn regierende politische Klasse in eine Situation hineinmanövriert, in der die üblichen Rituale zu versagen drohen. Im derzeitigen Ringen um die Macht wird zweierlei deutlich: dass die Rede von der „politischen Klasse“ – einer abgeschotteten Gruppe mit eigenem Regelsystem – berechtigt ist. Und dass die hier ausgebildeten Rituale defizitär sind. Tatsächlich beweist die Art, wie heute angeblich unüberbrückbare sachliche Differenzen morgen in einer vorgeblich verantwortungsethischen „Solidarität der Demokraten“ verschwinden, eine starke Form des Wir-Bewusstseins: einen geheimen Korpsgeist, der sich im Zweifel über die Imperative der Rationalität hinwegsetzt.

Jeder weiß hier, dass einige derer, die jetzt im Spiel um die richtige Positionierung unterliegen, mit ihrem Gesicht auch alle weitergehenden politischen Chancen verlieren werden. Das gilt nicht nur für die beiden Spitzenkandidaten. Wer sich jetzt nicht zu behaupten weiß, wird dem Schicksal nicht entgehen, aus dem emotional hoch besetzten Zusammenhang der Führungselite herauszufallen. Darüber ist tatsächlich leicht der Kopf zu verlieren. Dann nämlich, wenn man den eigenen insgeheim schon rollen sieht.