Im Grunde Staatstheater

THEATERSCHAU Vom klassischen und weiter frischen Tschechow bis zu einer fröhlich absurden Nummernrevue: Unter dem Label „RusImport“ stellten die Berliner Festspiele elf Tage lang Theater und Kunst aus Russland vor

Der „überflüssige Mensch“, klassischer Topos der russischen Kultur

VON KATHARINA GRANZIN

Die Russen scheinen ein geradezu theaterversessenes Volk zu sein. Allein in Moskau gebe es zweihundert Theater, erzählte die russische Kritikerin Marina Dawydowa am Sonntag bei der Abschlussdiskussion zur „RusImport“-Reihe im Haus der Berliner Festspiele. Und all diese Häuser seien im Grunde Staatstheater, finanziert mit öffentlichen Geldern. Zudem, ergänzte ihr Gesprächspartner Thomas Ostermeier, Schaubühnenchef mit Russlanderfahrung, müssten sich die Theater keine Sorgen um das Publikum machen. Sie seien immer voll.

Dazu führte Ostermeier das Gespräch mit einer jungen Schauspielerin an, die ihm erzählt hatte, sie habe in einer laufenden Produktion eine Rolle, die etwa vier Sätze umfasse, und würde die nächste Rolle dann in ungefähr zwei Jahren bekommen – einfach, weil das Stück, in dem sie spiele, so gut lief, dass sie jeden Abend Arbeit hätte. Der Großteil der Häuser allerdings, so wieder Dawydowa, mache eine kleinbürgerliche Form des Theaters für den Massengeschmack. Das gehe so weit, dass in einer Dostojewski-Adaption wie kürzlich in Moskau schon mal ein Zigeunerchor auftrete.

Solche Produktionen gab es im Haus der Berliner Festspiele natürlich nicht zu sehen. Knapp zwei Wochen lang konnte man dort unter dem Label „RusImport“ einen Einblick in die russische Theater- und Kulturszene gewinnen, noch fast zeitgleich zur kürzlich beendeten Ausstellung mit russischer Videokunst der Gruppe AES+F im Martin-Gropius-Bau.

Dabei überboten AES+F die KollegInnen von der Bühnenkunst locker in ausgreifender Theatralik, gepaart mit hyperrealistisch gestalteter Mythensymbolik. Doch wenn auch ästhetisch Welten zwischen der Kunstgruppe und dem Theater liegen mochten, fiel bei der zentralen Arbeit der Videokünstler, „The Feast of Trimalchio“, doch ein klassischer Topos der russischen Kultur auf, der unvermutet eine Brücke schlug zur wohl klassischsten Arbeit von „RusImport“: der „Drei Schwestern“-Inszenierung des in diesem Jahr verstorbenen Regisseurs Pjotr Fomenko.

In der Videoinstallation „The Feast of Trimalchio“ schien der, wie der Fachbegriff lautet, „überflüssige Mensch“ („Lischni Tschelowek“) der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts wiederauferstanden, nun in einem Ferienresort Tennis spielend und Ski fahrend. Und dabei immer noch so leidend an seiner Existenz, dass das Fitnessgerät gar zum Kreuzsymbol wurde.

Solche Brachialsymbolik hätte Anton Tschechow verabscheut. Aber auch bei ihm ist es das Leiden des Menschen an sich selbst, das seine Figuren endlos umtreibt. Olga, die älteste der „Drei Schwestern“, spricht es aus, wenn sie sagt, es schiene, „als brauchte es nur wenig, um zu wissen, warum wir leben, warum wir leiden … Wenn man nur wüsste, wenn man nur wüsste!“ Galina Tjunina, Darstellerin der Olga, schien nach diesem Schlusswort beim Applaus Tränen in den Augen zu haben. Was gar nicht so erstaunlich war, denn das wunderbare Ensemble des Fomenko-Studios spielte seinen Tschechow nicht nur, offenbar lebte es ihn geradezu. Nur so war es zu erklären, dass vier Stunden Theater, auf Russisch mit Übertiteln gespielt, vergingen wie im Fluge. Dass Tschechow dabei mit auf die Bühne gestellt wurde, um Regieanweisungen zu verlesen, hatte nicht nur keinen verfremdenden Effekt, sondern verstärkte fast noch die realistische Anmutung. Die Bühnencharaktere nämlich dachten nicht daran, ihren Autor ernst zu nehmen. Wenn er auch ständig mahnte: „Pause!“, so wischten sie diese Einwürfe nur ungeduldig weg und redeten weiter.

Darin waren diese Menschen, auch wenn sie in historischen Kostümen und Kulissen auftraten, sehr heutig. Stets bedacht auf Aktivität und sich nie Zeit lassend.

Am künstlerisch entgegengesetzten Pol der Theaterwelt agierte bei „RusImport“ die Petersburger Gruppe AKHE mit der Videoinstallations-Performance „Depot für geniale Irrtümer“. Wissenschaftliche Theorien, die sich als falsch erwiesen haben, würden hier szenisch umgesetzt, erklärte das Begleitprogramm. In Wirklichkeit war der inhaltliche Zusammenhang lose, aber immerhin Anlass für eine visuell gewitzte, fröhlich absurde Nummernrevue, die definitiv Entspannung vom Sinnsuchen bot.

Einen wirklich radikalen Kommentar zur heutigen russischen Gesellschaft aber lieferte bei „RusImport“ nicht das Theater, sondern ein Film, „Jelena“ von Andrej Swjaginzew. Darin tötet eine ehrbare Frau ihren zweiten Ehemann, um mit dessen Geld die Familie ihres nichtsnutzigen Sohnes (eine bierbäuchige Karikatur des „Lischni Tschelowek“) durchzubringen. 2011 gewann Swjaginzew damit den Sonderpreis der Sektion „Un certain regard“ in Cannes. Einen deutschen Verleih hat der Film noch nicht gefunden.