: Raum voller Rhythmus
My House Is Your House (III): Zwischen Minimal House und Experiment – das von Frankfurt nach Berlin gewechselte Label resopal_schallware sperrt sich gegen eindeutige Erwartungshaltungen
VON TIM CASPAR BOEHME
Um ein Haar wäre Stephan Lieb Chirurg geworden. Seine Ausbildung zum Mediziner hat er abgeschlossen, und so unaufgeregt freundlich, dabei immer bei der Sache, wie er sich im Gespräch zeigt, könnte er womöglich auch einen Patienten von der Notwendigkeit einer Beinamputation überzeugen. Eingriffe dieser Art muss Stephan Lieb erfreulicherweise nicht vornehmen. „Als Arzt hätte ich so viel arbeiten müssen, dass für meine anderen Interessen keine Zeit mehr geblieben wäre.“ Seit den Neunzigerjahren interessieren ihn vor allem Techno und House. 1998 zog er nach Frankfurt, wo er im folgenden Jahr mit dem gelernten Tontechniker Frank Elting das Projekt MRI und das Label konvex_konkav gründete.
Als MRI prägten die beiden den Sound des Labels ForceTracks, das zum ehemaligen Frankfurter Techno-Imperium Force Inc. gehörte. Ihr zweites und bisher letztes Album, „All that Glitters“, erschien 2002. Im selben Jahr gründete das Duo dann resopal_schallware. „Deployed“, das Techno-Debüt des New Yorker Filmmusikers Sasha Kaline alias Alka, machte den Anfang. Weitere Titel von Misc., D. Diggler, dem Chicagoer Produzenten Billy Dalessandro und dem Stuttgarter Jackmate folgten. Der erste kommerzielle Erfolg kam mit der Compilation „Jack to Future“, eine Hommage an den Chicagoer Jackhouse-Stil der Achtzigerjahre, aus dem Acid und alle weiteren Entwicklungsformen von House hervorgingen.
„Wir dachten uns, wir gucken mal, wer von den Minimal-Produzenten noch Jackhouse kennt und in das Jahr 2003 transportieren kann.“ Wie sie feststellen mussten, war Jackhouse bei manchen in Vergessenheit geraten, aber immerhin konnten Künstler wie Baby Ford, Rob Acid, Mathias Schaffhäuser oder der Berliner Dub Taylor, der ein Jahr später unter dem Namen Tigerskin ein ganzes Album in diesem Retro-Stil vorlegen sollte, mit dem Begriff etwas anfangen.
Vom Verkauf der Compilation hatte das Duo nicht sehr viel: Ihr Vertrieb, die EFA, ging pleite, die Erlöse flossen in die Insolvenzmasse. Zu dieser Zeit verließ Frank Elting das Label, er war unzufrieden, weil die eigene Kreativität zu kurz kam. Stephan Lieb blieb mit den Schulden allein: „Ich musste einen Anwalt nehmen, und es wäre fast zum Konkurs gekommen. Ich habe schon gedacht, ich schmeiß alles hin.“
Dass er trotzdem weitermachen konnte, lag nicht zuletzt daran, dass er mit Rough Trade und Neuton neue Vertriebspartner fand. Im vergangenen November zog Stephan Lieb nach Berlin, wo er von einer Altbauwohnung in Friedrichshain aus sein Label betreibt, das seit einem Jahr auf eigenen Füßen steht, so dass er mittlerweile auch seine Praktikanten bezahlen kann. Die Sorge um den Umsatz hält ihn gleichwohl nicht von Experimenten ab. Mit Tilman Ehrhorn ist nun ein Künstler zu resopal_schallware gekommen, der nicht nur durch seine Musik das Programm stark bereichert – er ist sowohl Elektroniker als auch ausgebildeter Jazzmusiker. Als Saxofonist arbeitete er mit Jazzgrößen wie Wayne Shorter, Albert Mangelsdorff oder dem Posaunisten Nils Wogram zusammen.
Mit „Heading for the Open Spaces“ veröffentlicht Tilman Ehrhorn sein zweites Album. Seine Musik zeichnet sich durch eine Kombination komplexer und zugleich ruhiger Rhythmen, behutsam arrangierter Klänge und modaler Harmonien aus. Auf seinem neuen Album hat er diesen Sound noch weiter perfektioniert, die Rhythmik ist sowohl komplexer als auch entspannter gestaltet, die Klänge sind noch feiner aufeinander abgestimmt. Kontinuierlich entwickeln sich die Stücke weiter, hier und da treten einzelne Klänge in den Vordergrund, sei es ein Clavinet-Sample oder eine Basslinie.
Der Albumtitel „Heading for the Open Spaces“ lässt sich in mehrfacher Hinsicht als programmatisch verstehen: Für die Musik, in der sich die Klänge zu „lichten“ scheinen, aber auch für die Entwicklung des Labels selbst, das sich auf eine Entdeckungsreise begeben hat, bei der das Ziel nicht vorgegeben zu sein scheint. Dass damit auch Risiken verbunden sind, nimmt Stephan Lieb in Kauf: „Dem Kundenkreis wird das eher schaden. Es kann schon schwierig werden, wenn man nur auf Techno steht und dann im resopal-Fach Tilman Ehrhorn findet.“ Er habe kurz überlegt, ob er ein Sublabel gründen soll. Aber dann dachte er sich: „Nein, es soll nicht klar sein, dass bei resopal immer alles four to the floor ist.“ Dennoch hofft er, dass er mit anderen Veröffentlichungen wie dem für November angekündigten minimalistischen Album von Der Dritte Raum mögliche Gewinneinbußen ausgleichen kann.
Bei der Auswahl der Künstler ist für Stephan Lieb entscheidend, was ihm gefällt. Und ob der Produzent ihm etwas erzählen kann oder die Musik bloß ein Tool für DJs ist. „Die Minimal-Szene ist ziemlich langweilig geworden. Techno transportiert nichts mehr.“ Bei Tilman Ehrhorn habe er hingegen gedacht: „Da passiert etwas.“ Diese Kriterien interessieren ihn auch mehr als ein bestimmter labeltypischer Sound. Zudem bezweifelt er, dass seine Kunden, in erster Linie DJs und Vinylliebhaber, nur „diesen einen Sound“ wollen.
Ohnehin ist die professionelle Ernsthaftigkeit, die in der Clubszene inzwischen vorherrscht, nicht seine Sache. „Ich sehe die Szene eher sarkastisch und nehme das alles nicht zu ernst.“ Auch sich selbst und seine Labelarbeit betrachtet er durchaus mit humorvoller Distanz: „Ich entwickle mich immer mehr zum Buchhalter. Im Grunde ist so der Kreis zur Medizin geschlossen, indem ich zehn Stunden am Tag Labelarbeit mache und die eigene kreative Tätigkeit zu kurz kommt.“ Ein kleiner Trost: Am 22. Oktober wird er zum ersten Mal seit drei Jahren wieder mit Frank Elting, der mittlerweile auch nach Berlin gezogen ist, als MRI auf der Bühne stehen, an einem noch nicht offiziellen unterirdischen Ort. „Eine Berliner Underground-Location, das trifft es wohl ganz gut“, sagt er grinsend.