: Im mächtigen Strom der Worte
REISE In A. L. Kennedys „Das blaue Buch“ wird ein Schiff zum leidenschaftlich schaukelnden Schicksalsbild
VON KATHARINA GRANZIN
Arthur und Beth also. So wie die ersten beiden Buchstaben des Alphabets aufeinanderfolgen, so sind die Protagonisten von A. L. Kennedys neuem Roman schicksalhaft verbunden. Es sieht zwar zunächst gar nicht danach aus; doch viele Dinge sind hier nicht, wie sie scheinen.
„Das blaue Buch“ spielt auf einem Schiff und gibt damit einen sehr eng gesteckten Rahmen vor, innerhalb dessen die Figuren sich bewegen können. Es gibt kein Entrinnen, vor den anderen nicht, aber auch nicht vor sich selbst. Die Schottin A. L. Kennedy liebt diese klaustrophobischen Settings. Das Schiff ist die Steigerung der Insel, auf der die Autorin ihre Figuren etwa in „Alles was du brauchst“ angesiedelt hat. (Sie selbst schreibt, wie sich dem Nachwort zu „Das blaue Buch“ entnehmen lässt, worin sie den Bewohnern der Insel Sark dankt, offenbar gern auf Eilanden.)
Dieser Topos des „huis clos“ ermöglicht es, die Figuren in direkter Konfrontation aufeinanderprallen zu lassen. Im „blauen Buch“ verschärft sich das potenziell Klaustrophobische der Situation durch starken Seegang, der das Schiff, und damit das Leben der auf ihm befindlichen Menschen, stark ins Schwanken bringt und die luxuriöse Zwischenexistenz der Kreuzfahrtpassagiere als trügerisch und permanent gefährdet vorführt.
Doch handelt es sich, auch das sicher nicht zufällig, eigentlich um keine Kreuz-, sondern um eine Überfahrt, eine Passage von irgendeinem britischen Hafen nach New York. An ihrem Ende steht die „dicke Frau“, wie A. L. Kennedy es ihre männliche Hauptfigur ausdrücken lässt: die Freiheitsstatue. Ein Randsymbol nur, das im Kontext von Kennedys barocker Prosa nicht einmal billig wirkt und deutlich zeigt, dass diese Autorin keine Angst vor Pathos hat.
Das Pathos des blauen Schiffsromans entfaltet sich in dem Spannungsfeld zwischen den beiden Hauptfiguren, einem zunächst heimlichen Liebespaar. Die paar Nebenfiguren, die es sonst noch gibt, dienen vornehmlich der Bekräftigung und Bestätigung dieser verschleierten Beziehung, und auch die sehr verrätselte Einführung der Charaktere verstärkt die mysteriöse Aura, von der die Liebenden umwabert werden.
Beth, die weibliche Hauptfigur, betritt das Schiff nicht in Begleitung von Arthur, dem ihr, wie man erst später begreift, vom Schicksal bestimmten Geliebten, sondern zusammen mit einem Derek, der offensichtlich ihr derzeitiger Lebensgefährte ist. Nur scheibchenweise enthüllt der Roman die wahre Beziehung zwischen Beth und dem Mann, der in der Schlange beim Einschiffen hinter ihr steht, sich ungebeten als Arthur Lockwood vorstellt und Beth während der Wartezeit mit einem scheinbar banalen Zahlenrätsel unterhält.
Beth und Arthur waren einst, so lässt sich nach und nach rekonstruieren, nicht nur ein Liebespaar, sondern auch beruflich verbunden. Sie sind vom selben Schlag, Beth als Tochter eines Zauberkünstlers und Arthur als Trickbetrüger. Gemeinsam sind sie früher in Séancen vor Publikum aufgetreten, bei denen sie vorgaben, mit verstorbenen Angehörigen ausgewählter Zuschauer in Kontakt zu treten.
Die Geheimcodes, die dabei eine Rolle gespielt haben, die Buchstaben- und Zahlenrätsel, werden im Laufe des Romans zunehmend umgedeutet zu einem Geheimcode der Liebe. Dazu setzt die Autorin einen üppigen, geradezu überbordenden Erzählapparat in Gang, in dem ebenfalls mit allen Tricks gearbeitet wird. Erzählt wird abwechselnd in erster, zweiter und dritter Person. Viele Abschnitte sind in der Erzählperspektive nicht von vornherein eindeutig einer der beiden Hauptfiguren zuzuordnen. Über lange Passagen hinweg strömt Beths Bewusstsein scheinbar frei vor sich hin, assoziativ, erinnerungswütig, zornig, ungefiltert und ungemein wortreich. Keine gliedernde, sortierende Erzählstimme scheint hier einzugreifen; dies ist eine Prosa, die sich völlig verausgabt in geradezu narzisstischer Sprachverzückung.
Narzisstisch sind auch die beiden Hauptfiguren, eingesponnen in ihre eigene Welt und im Romanganzen so dominierend, dass die Nebenfiguren einem regelrecht leidtun können – angefangen bei dem armen Derek, zu Beginn noch Beths Liebhaber mit Eheambitionen, der jedoch bald seekrank in die Koje geschickt wird und sich am Schluss in einer hoch peinlichen Eifersuchtsszene als Nebenbuhler lächerlich macht.
Die Welt als solche bleibt ausgesperrt aus dem Leben der ProtagonistInnen, aus diesem Roman. Der Roman ist ein Schiff, und das Schiff, das hatten wir schon, schaukelt mächtig in den Wellen einer ziemlich idiosynkratischen Leidenschaft, deren hochkomplexe Verrätselung vermutlich hohen Symbolwert besitzt. Doch je machtvoller die Prosa strömt, desto größer ist die Gefahr, dass sie einfach zu mächtig vorüberrauscht.
Es ist nicht ohne Reiz, erfordert aber viel guten Willen, sich dieser Flut von Sprache zu überlassen, die darauf abzuzielen scheint, ihre RezipientInnen einfach mit fortzuschwemmen. Es ist aber genauso in Ordnung, wenn man manchmal den starken Impuls verspürt, diesem Strom der Worte ein eigenes Bewusstsein entgegenstemmen zu wollen. In jedem Fall ist dies ist eine Prosa, die nicht ohne Wirkung bleibt.
■ A. L. Kennedy: „Das blaue Buch“. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Carl Hanser Verlag, München 2012. 365 Seiten, 21,90 Euro