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Archiv-Artikel

Die Enkel von Odysseus müssen sich entscheiden

BALLHAUS NAUNYNSTRASSE Griechenland verlassen oder bleiben? Die Theaterinszenierung „Telemachos – Should I stay or should I go?“ erscheint wie ein lockeres Familienfest. Dort erzählen sechs Griechen über ihr Leben vor und nach der Krise

Der Vater starb verschuldet. Immer fand sich eine Bank, die ihm mehr Kredit gab

Prodromos Tsinikoris wurde 1981 in Wuppertal geboren. Nach dem Abitur studierte er an der Universität in Thessaloniki. Seine Eltern leben in Deutschland. Prodomos jedoch ging zurück nach Griechenland, denn darauf hatten ihn seine Eltern seit seiner Kindheit vorbereitet. Nun sind die Zeiten wieder andere, und der 31 Jahre alte smarte Schauspieler und Theatermacher steht auf der Bühne des Ballhauses Naunynstraße und überlegt, ob er in Griechenland bleiben oder wieder nach Deutschland gehen soll.

Eine Entscheidung, die angesichts der Schuldenkrise ziemliches Gewicht hat. Doch „Telemachos – Should I stay or should I go?“, ein Abend, den Tsinikoris und der Regisseur Anestis Azas zusammen am Ballhaus Naunynstraße inszeniert haben, packt die Frage unaufgeregt, ja teils mit großem Witz an. Bald kommen zu Tsinikoris fünf weitere Griechen auf die Bühne, man trifft sich wie bei einem lockeren Abendessen. Einer, Christos, ehemaliger griechischer Wirt, kocht Suppe. Alle erzählen ihre Biografien, am Ende wird gegessen, und in der Nestwärme, die dieses kleine Kollektiv auf der Bühne schnell erzeugt, scheint das Hin und Her ihrer Wege einfacher erzählbar zu sein.

Der Wirt Christos lässt sich jedenfalls den heiteren Aspekt seiner Biografie nicht nehmen. Sein griechisches Restaurant am Ku’damm-Karree wurde 1982 stadtbekannt, als Nana Mouskouri und Harry Belafonte bei ihm aßen. Anfang der 90er ging er mit Plastiktüten voll ersparten Bargelds nach Griechenland, machte dort pleite, kehrte nach Berlin zurück. Sofia wiederum zog 1970 nach Stuttgart, nachdem sie sich zu Hause gegen die Junta politisch engagiert hatte, aber nichts verändern konnte. Nach zwei Jahren als Putzfrau fand sie einen besseren Job und wurde Sozialarbeiterin; ihr Weg ähnelt dem von Despina. Nur steckt sie als Jüngste auf der Bühne noch ganz frisch in dem Prozess, die Konsequenzen ihrer Entscheidung auszuhalten, seit sie vor einem halben Jahr nach Berlin kam. Man spürt der ausgebildeten Psychologin das Unglück an, nach zehn Jahren Studium nun in Deutschland Hemden bügeln zu müssen.

In ihren Biografien finden sich Muster und Ähnlichkeiten, aber das Stück zielt darauf ab, dass das Individuum seine Entscheidungen eigenverantwortlich treffen muss, auch wenn es scheinbar übermächtige Kräfte umgeben. Odysseus’ jahrelange Irrfahrt, der Urmythos einer Wanderschaft, kommt kurz zur Sprache. Was ausreicht, um einen ins Nachdenken zu bringen über die Wiederholung von Geschichte und darüber, wie eine Generation auf die nächste wirkt.

Die Protagonisten auf der Bühne agieren im Bewusstsein, dass das Pochen auf eine ruhmreiche Vergangenheit ebenso wenig hilft wie die Schuldzuweisungen, die zwei von ihnen in einem Streit miteinander austauschen. Und doch spielen auch Wut und Scham eine Rolle, wenn etwa der arbeitslose Schauspieler Kostis von seinem Vater erzählt, der hoch verschuldet starb. Immer fand sich eine Bank, die dem Vater noch mehr Kredit gab.

Das Regieduo Tsinikoris und Azas hat vor zweieinhalb Jahren für Rimini Protokoll gearbeitet, als diese für ein Dokumentartheaterstück hundert Athener auf die Bühne holten. Man merkt es „Telemachos“ an. Mal gerät die eine Erzählung zu lang, andere sind zu kurz, Videointerviews werden eingespielt, es gibt eine Gesangseinlage, die sich nicht erschließt. Aber sei’s drum. Es öffnet sich das Spannungsfeld, in dem die Frage, ob man bleibt oder geht, von jedem anders zu beantworten ist. Das macht die Qualität von „Telemachos“ aus. Die Inszenierung wird im Februar und März auch in Athen zu sehen sein. SIMONE KAEMPF

■ Am 15.–17. und 26.–29. 1., Ballhaus Naunynstraße, 20 Uhr