: Die Seele am Zügel führen
Vom Idealismus zum visuellen Terror ist es auch nur ein Schritt: ein Besuch in Weimar aus Anlass einer prominent besetzten Konferenz, die nach der Wirkungsmacht von Schillers Ästhetik fragte. Man lernt: Kunst ohne Konflikt glaubt keiner, und auch die Klassik kann sich sinnlicher Erfahrung öffnen
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Im Zehnminutentakt halten Reisegruppen auf den Spuren der Klassik vor den Wohnhäusern von Goethe und Schiller, jede Buchhandlung hat ihren Klassiktisch, auf dem manchmal auch Schiller-Nudeln zwischen Goethe-Bänden liegen. Weimar lebt von der Klassik – und macht es sich doch nicht nur leicht damit.
Ein Stolperstein auf dem Weg eines allzu kommoden Klassikverständnisses war die Konferenz „Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne“, zu der Felix Ensslin, Dramaturg am Nationaltheater Weimar, nun Philosophen, Theater- und Kunsthistoriker eingeladen hatte. Nicht alle Referenten redeten über Friedrich Schiller; aber dessen Ästhetik mit ihren Widersprüchen zwischen Konzepten der Versöhnung von Sinnlichkeit und Sittlichkeit, Form und Materie einerseits und seinen Strategien der Radikalisierung andererseits bildete den allgemeinen Referenzpunkt. So konnte sogar ein Vortrag über die Edelstahlhasen von Jeff Koons von der Kunsthistorikerin Dorothea Hantelmann dazu beitragen zu erhellen, wie weit das Echo der klassischen Ästhetik trägt. Denn der Anspruch der Versöhnung von Gegensätzen wird auch dort noch als Motor von künstlerischer Produktion begriffen, wo die Pole des Gegensatzes längst andere geworden sind: wie etwa Ware und Kunst, High- and Low-Culture. Negiert man, wie Jeff Koons, deren Dialektik und behauptet Versöhnung, wird der Widerstand groß. Kunst ohne Konflikt glaubt einfach keiner.
Den Auftakt der Konferenz bildete ein Vortrag des französischen Philosophen Jacques Ranciére, der ein neues Bild von der Klassik als Beginn einer Moderne zeichnen wollte, die um den Riss zwischen dem Schönen und dem Wahren weiß. Nicht das Normative, nicht der Ausschluss, nicht das Ideal als Vorbild macht in dieser Interpretation das Wesen der Klassik aus, sondern gerade ihre Fähigkeit zur Öffnung für neue Typen sinnlicher Erfahrung. Ranciére nahm eine Lektüre von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung und den Spieltrieb vor, die auf ein Aussetzen der Herrschaftsbeziehungen zwischen Form und Materie, Verstand und Sinnlichkeit zielte. „Nichts zu wollen“ und im Spiel einen müßigen, „neutralen Zustand“ zwischen Aktivität und Passivität zu durchqueren, strich Ranciére als die entscheidenden Merkmale eines „ästhetischen Regimes“ heraus, dem Schiller die Lösung jener Probleme zutrauen mochte, an denen die Französische Revolution gerade gescheitert war.
So versuchte Ranciére eine Ehrenrettung Schillers von dem Ruf eines Idealisten, der das Umkippen der Freiheitsideale in Zwang und Terror gerade dort immer wieder heraufbeschwört, wo er dieser Erfahrung ausweichen möchte. Allein von dieser Ehrenrettung ließ die anschließende Konferenz nicht allzu viel übrig. Schillers Versuche, Zwang und Disziplinierung, die auf dem Weg zur Republik die schönsten Bilder der Freiheit zerstört hatten, durch etwas anderes zu ersetzen, splittern sich in seinen Dramen und ästhetischen Schriften in unterschiedliche Strategien auf, die von den Referenten und Regisseuren als verschiedene Teststrecken gelesen wurden. Wo aber kein Scheitern an ihrem Ende stand, blieben die Konstruktionen so fragil und abstrakt, dass man nicht so recht wusste, wo man sie denn verorten könnte.
Christoph Menke, Professor für Philosophie in Potsdam, suchte nach dem Adressaten der „ästhetischen Erziehung“ und hegte den Verdacht, dass die Fürstenerziehung den Modus vorgab. Die Idee, dass mit der Selbstbeherrschung der Individuen die Herrschaft der einen Klasse über die andere endet, gerät dabei in eine Schräglage. Hans-Thies Lehmann, der in Frankfurt am Main Theaterwissenschaft lehrt, folgte den Spuren des Enthusiasmus in Schillers Schriften und einer sich hochschraubenden, aufschaukelnden Sprache. Er suchte in Schillers Dramen ebenjene Figuren auf, die sich durch das „nichts zu wollen“ auszeichnen, und entdeckte, dass dieser Zustand der Befreiung meist in den einer Selbstermächtigung und einer „Schwungsucht“ umkippt, die hin zum Übertreten der Zivilisationsgrenze, zur Auslöschung und zur Verausgabung neigt. Der „neutrale Zustand“, den Ranciére als Toröffner zu neuen Erfahrungshorizonten sah, erhielt somit eine bedrohliche Kontur.
Diese Interpretationslinie setzte Felix Ensslin am gleichen Abend mit einer Performance fort, die gruselig, grenzwertig und teilweise auch unerträglich war. Für „die räuber – short circuits“ arbeitet Ensslin mit dem amerikanischen Künstler Brook Enright zusammen, der in seinen radikalen Kunstaktionen freiwillige Mitspieler in Angst und Schrecken versetzt. Man kann nicht mehr unterscheiden, ob sie Opfer sind oder Opferrollen spielen, und damit erfüllen sie auf schreckliche Weise auch das Ende der Repräsentation und ihre Ersetzung durch reale Erfahrung. Vorne auf der Bühne saßen junge Schauspieler an Tischen, unbeweglich, und nichts in ihrem Körper folgte dem Aufruhr der Gefühle, von dem sie aus Schillers „Räuber“ lasen. Die Texte brodeln vom Hass und der Selbstzerstörung des Ausgeschlossenen: „ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, dessen ich nicht Herr werde; Herr muss ich sein.“ Doch was bei ihnen Sprache bleibt, wird in den Videobildern dahinter sprachlose, unmotivierte Gewalt. Nicht zuletzt die Kamera und ihr zwanghaftes Kriechen in jeden Winkel der außer Kontrolle gebrachten Körper zerstörte jeden Rest von Würde. Das war visueller Terror.
Im Schillerhaus in Weimar ist gerade eine Ausstellung aus Marbach eingetroffen, „Götterpläne und Mäusegeschäfte“, die viel über die schwierigen Bedingungen literarischer Produktion zur Zeit Schillers erzählt und sein Streben um Anerkennung in einer Welt, die noch von den Schranken zwischen Bürgertum und Aristokratie geprägt ist. Einer der Wandtexte spricht von Schillers Hoffnung auf den „große(n) Augenblick im Schauspielhaus, wo ich des Zuschauers Seele am Zügel führe“. Da bricht sie schon wieder durch, die Geste des Enthusiasmus, die so schnell ins Autoritäre kippen kann.