: Schön sachlich
Das wird schon: Angenehm unaufgeregt legt sich die Koalition mit Interessengruppen an
Nach Wochen des Zweifelns fällt es in diesen Tagen wieder ziemlich leicht, die große Koalition sympathisch zu finden. Allzu eintönig fallen Experten und Interessenverbände über das verabredete Regierungsprogramm her. Die Gewerkschaften finden das Programm zu unsozial, die Arbeitgeber halten es für wirtschaftsfeindlich und die Sozialverbände kritisieren, dass die Renten nicht steigen. Fast scheint es, als habe das neue Bündnis geradezu die goldene Mitte getroffen, von allen Extremen gleichermaßen weit entfernt.
Ganz so ist es natürlich nicht, weil es das objektiv Richtige gar nicht gibt. Aber von dem, was in den vergangenen Jahren von einer Mehrzahl der Beobachter für richtig gehalten wurde, findet sich in der Koalitionsvereinbarung einiges wieder. Nicht wenige Experten, so scheint es, kritisieren heute genau jene Vorschläge, die sie einst selbst gemacht haben.
Beispiel Mehrwertsteuer: Verbrauchssteuern rauf, Sozialbeiträge runter – das galt jahrelang als Königsweg zur Rettung der Sozialsysteme angesichts einer sinkenden Zahl von Beitragszahlern. Jetzt steigt die Mehrwertsteuer tatsächlich um drei Punkte, auf ein Niveau, das sich im europäischen Vergleich noch immer moderat ausnimmt. Ein Drittel davon fließt direkt in die Sozialkassen, ein weiteres Drittel indirekt über den Bundeshaushalt. Und das letzte Drittel – wir reden hier über Politik – geht an die Länder, um deren Zustimmung einzukaufen.
Ähnlich geht es in vielen anderen Bereichen. Dass die Renten eingefroren, real also gesenkt werden – das ist, kombiniert mit der von Rot-Grün eingeführten Grundsicherung, durchaus ein erster Schritt zu jener einheitlichen Grundrente für alle, die langfristig wohl unvermeidlich ist.
Die Kritik an der Koalitionsvereinbarung gipfelt in dem unerhörten Vorwurf, Schwarz-Rot habe „keine Visionen“. Dabei übersehen die Auguren, dass sich die scheidende rot-grüne Bundesregierung mit ihrem ständigen Gerede von „Projekten“ am Ende selbst ruiniert hat, weil sie den hoch gesteckten Erwartungen gar nicht gerecht werden konnte. Zumal die Visionen während der siebenjährigen Regierungszeit ständig wechselten. Dass die schrille „Basta“-Rhetorik, die in den vergangenen Jahren oft genug gepflegt wurde, jetzt einem sachlicheren Ton gewichen ist – das darf man durchaus als Gewinn verbuchen.
Dieser Gewinn ist womöglich wichtiger als manches Detail, das jetzt eilig festgehalten wurde. Problematisch ist vor allem das Vorhaben einer Föderalismusreform, die den Ländern auf der einen Seite Blockaderechte nimmt, um sie ihnen etwa bei der Bildung gleich wieder zurückzugeben. Das aber haben die Landesfürsten durchgesetzt – nicht an allem sind eben die Berliner Koalitionäre schuld. Sie liefern keinen großen Wurf – aber gerade damit werden sie dem Wahlergebnis vom 18. September ja gerecht. RALPH BOLLMANN
Fotohinweis: Ralph Bollmann leitet die Inlandsredaktion der taz