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Archiv-Artikel

Unglaublich jung, sexy und begabt

SINGEN Vier Tage lang hat ein Festival im Radialsystem die unterschiedlichen Facetten des Chorgesangs gefeiert. Herzstück und Highlight war die Nacht der Chöre, bei der auch das Publikum mitsingen durfte

Das Radialsystem schwirrt wie ein großer musikalischer Pausenhof

VON KATHARINA GRANZIN

Die meisten gucken nur kurz und eilen weiter, etliche bleiben aber doch stehen und lauschen ein Weilchen. Sogar oben bei McDonald’s kleben Leute hinter der Glasscheibe und äugen hinunter. Immerhin ist in der Eingangshalle des Ostbahnhofs ein Schauspiel zu erleben, das man hier nicht alle Tage sieht: Das Festival Chor@Berlin, das dieses Jahr schon zum dritten Mal im nahen Radialsystem stattfindet, hat seine Aktivitäten bis in den Bahnhof ausgeweitet und Singende in Scharen hierher ausgesandt. Drei Chöre geben nacheinander ein Konzert in der Bahnhofshalle, postiert an deren entgegengesetzten Enden, um zum Schluss in der Mitte zusammenzukommen und ein Bahnhofsstück zu singen, das die Komponistin Sabine Wüsthoff eigens für diesen Anlass geschrieben hat.

Die ungewöhnliche Aktion fungiert als Auftakt für die „Nacht der Chöre“, die Herzstück des Chorfestivals im Radialsystem ist. Der mutmaßliche musikalische Höhepunkt ist bereits am Abend vorher begangen worden, als das Festival mit dem Auftritt des Ensembles Vocalconsort eröffnet wurde. In Vocalconsort haben sich professionelle SängerInnen zusammengeschlossen, die sonst auch solistisch auftreten, um sich gemeinsam vorwiegend der Alten Musik zu widmen. In dieser Formation haben sie es zu einiger Prominenz gebracht – sehr zu Recht, wie sich am Donnerstagabend im Radialsystem zeigt, wo Vocalconsort mit einem Programm auftritt, das den für einen Eröffnungsabend durchaus eigenwilligen Titel „Über das Ende“ trägt.

Kein Grund zur Traurigkeit

Die Tonsetzer Bach, Schütz, Schein und andere barocke Epochengenossen liefern die Musik zu Texten wie „Seelig sind die Toten“, „Unser Leben ist ein Schatten“ oder „Die mit Tränen säen“, die sämtlich den Verfallsgedanken in den Mittelpunkt stellen. In Töne umgesetzt und von den VokalartistInnen spannungs- und bezugsreich dargeboten, ist die Endlichkeit des Lebens an diesem Abend jedoch kein Grund zur Traurigkeit, sondern im Gegenteil Anlass für ein wirklich beglückendes Konzerterlebnis.

Da man im Radialsystem zusätzlich aufgestuhlt hatte, blieben an jenem ersten Abend allerdings etliche Plätze leer. Ganz anders am Folgeabend, eben der Nacht der Chöre. Wenn sechs Laienchöre in einer einzigen Veranstaltung auftreten, braucht man sehr viele Stühle; denn während die Professionellen nicht zu jedem Auftritt die ganze Familie und den halben Freundeskreis einladen, tun Amateure das.

Die drangvolle Enge stört aber nicht, sondern scheint eher noch die freudig-erregte Stimmung zu verstärken. Etwas ist anders als bei anderen Festivals, denn Mitwirkende und Zuschauer mischen sich stärker als sonst – die meisten hier machen entweder selbst mit oder kennen jemanden der Mitwirkenden. Das Radialsystem schwirrt wie ein großer musikalischer Pausenhof.

Sechs Chorauftritte von jeweils einer halben Stunde, dazwischen zwei Pausen und zwei Publikums-Mitsingrunden, das alles braucht seine Zeit. Doch wenn man eingangs noch überlegt haben sollte, ob dieser Abend nicht womöglich sogar zu lang werden könnte, ist es dann erstaunlich einfach, sich immer weiter mittreiben zu lassen.

Die Chorvergleiche erweisen sich als nicht nur in musikalischer Hinsicht hochinteressant, sondern auch in puncto Bühnenpräsenz, Ausstrahlung und Notensicherheit. Wenig überraschend besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen allen Punkten: Je höher der Anteil der Chormitglieder, die es vorziehen, lieber intensiv in die Noten als zur DirigentIn zu sehen, desto fader der musikalische Ausdruck. Was die saubere Ausführung betrifft, musizieren übrigens alle Ensembles auf sehr hohem Niveau. Ein inspirierender Höhepunkt sind die vocal-concertisten Berlin unter Kristian Commichau, deren Spezialität es ist, Nichtvokalwerke zu „scatten“, also Instrumentalstimmen mit sinnfreien Silbenfolgen wie „dabadabadaaa“ singend umzusetzen.

Auch Kerstin Behnke und ihr Kammerchor Tonikum haben mit Werken so unterschiedlicher Komponisten wie Martinu und Monteverdi ein eindrucksvolles und stimmiges Programm mitgebracht. Und als Letzte, es geht schon gegen Mitternacht, treten die preisgekrönten Fabulous Fridays auf, die natürlich gar kein richtiger Laienchor sind, sondern der Jazz-Pop-Chor der Universität der Künste. Das erklärt und entschuldigt, dass sie so unglaublich jung, sexy und begabt ganz locker auf der Bühne agieren, natürlich keine Noten brauchen und dabei auch noch wahnsinnig gut singen können. Aber das Tollste ist: Man sieht ihnen an, welchen Spaß das macht.