: Der Schneefall. Eine Katastrophe?
Sturm, Eis und Schnee – in Teilen des Münsterlandes fällt der Strom aus, mehr als hunderttausend Menschen müssen ein Wochenende in der Dunkelheit verbringen und Millionen sehen ihnen dabei zu: In Sondersendungen schalten TV-Sender stündlich in die Landkreise. Aber ist der plötzliche Wintereinbruch in Nordrhein-Westfalen wirklich die ganz große Katastrophe?
Ja
Der Schnee bedingte Stromausfall im Münsterland war nicht nur für 250.000 Menschen unangenehm und unbehaglich. Der Blackout auf dem platten, schwarzen Land ist eine politische Katastrophe für CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers. Nicht zufällig reiste der NRW-Regierungschef am Wochenende schnell in die Krisenregion, um die Saftlosen und Verkühlten zwischen Rhede und Ochtrup zu trösten, um Altenheimbewohner zu tätscheln und Rettungsdienstmitarbeitern die Hände zu schütteln. Das Münsterland ist nämlich Rüttgersland, die Prärie an der niederländischen Grenze ist politisch schwarz wie die Nacht – auch ohne Stromausfall. Die CDU hat ihren historischen Landtagswahlsieg vom 22. Mai nicht zuletzt den Wählerinnen und Wählern in jenen Städten und Dörfern zu verdanken, die am Wochenende in kollektiver Düsternis versanken.
Coesfeld 61 Prozent, Borken 58 Prozent, Steinfurt 55 Prozent – die CDU-Stammwählerschaft im Münsterland ist katholisch, bodenständig und treu. Ähnlich wie die konservativen US-Politiker George W. und Jeb Bush – der eine Präsident, der andere Gouverneur – nach schweren Stürmen fast ritualisiert ihre republikanischen Kernwählerschaften in Florida aufmuntern (und schwarze Demokraten-Wähler während des Unwetters in New Orleans geflissentlich übersehen), folgte der Rüttgers-Trip ins Krisengebiet damit auch nüchterner politischer Logik. Man mag derlei regierungsamtliche Symbolhandlungen als lächerliche oder platte Inszenierungspolitik verdammen: Für den Parteipolitiker Jürgen Rüttgers war der Wochenendbesuch gleichwohl von großer Nützlichkeit, um Schadensbegrenzung zu betreiben.
Aber egal, wie viele Hände der Ministerpräsident schütteln konnte, wie mitfühlend er auch dreinblickte – was bleibt, ist ein verheerender Eindruck: In einer der wohlhabendsten Regionen des Landes Nordrhein-Westfalen brach ein Kernsektor staatlicher Daseinsvorsorge zusammen. Ausgerechnet das Münsterland. Dabei gehört besonders das westliche Münsterland seit Jahren zu den dynamischsten Wirtschaftsregionen in NRW. Die Arbeitslosenzahlen sind in den meisten Kommunen erfreulich gering. Auch familienpolitisch ist dieser ländliche Raum konservatives Musterland: Der Kreis Borken hat eine der höchsten Geburtenraten in der Bundesrepublik Deutschland.
Nur vor diesem Hintergrund allgemeiner Prosperität und Harmonie ist der schockierende Eindruck zu verstehen, der bei vielen im Münsterland nachwirken wird. Ein paar Schneeflocken zu viel, und aus dem Speckgürtelgebiet wird eine Krisenzone. Technisches Hilfswerk fährt mit schwerem Gerät durch die Straßen, mobile Stromaggregate werden herbeigeschafft, Kranke und Alte müssen evakuiert werden, beheizte Sammelunterkünfte werden eingerichtet. Tausende verbringen das Wochenende in der ungeheizten Wohnung bei Kerzenschein. Sämtliche Schulen in den Kreisen Borken, Coesfeld und Steinfurt bleiben geschlossen.
Nur vordergründig geht es jetzt darum, wer die Verantwortung für den Blackout trägt? Die Stromversorger, die Behörden oder doch höhere Gewalt, Gevatter Wetter? Unter der Oberfläche peinlicher TV-Sendungen wird in den menschenleeren Gegenden das Gefühl wachsen, der Staat könne doch nicht helfen, wenn es wirklich finster wird. Gerade in einer Region, deren entlegenste Gehöfte und Siedlungen erst sehr spät, nämlich in den 1930ern und 1940ern, elektrifiziert wurden, bedeutet der Stromausfall auch einen Rückfall in das vergangene Jahrhundert.
Für Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der von Düsseldorf aus ein neues, moderneres NRW herbei regieren will, könnte die öffentliche, über die Massenmedien global verbreitete Botschaft nicht schlechter sein: Teile des alten Industrielands NRW im Dunkeln. „Since Friday, a quarter of a million people had been without power in North-Rhine Westphalia“, tickerte Reuters über den Globus. „Havoc (zu Deutsch: Verwüstung) in the western parts of Germany“, schrieb die staatliche chinesische Xinhua. Zwei Mal war das größte Bundesland seit dem Regierungswechsel nun groß in den internationalen Schlagzeilen. Das erste Großereignis war der Papstbesuch anlässlich des Weltjugendtags. Tausende Jugendliche feierten am Rhein und riefen „Benedetto!“. So wie er den Papstbesuch zur Stimmungsaufhellung in schwierigen Zeiten mitnahm, muss Rüttgers nun auch mit den Folgen des Stromausfalls leben. Bei seinem Besuch im Münsterland schien er schon eine Ahnung zu haben, dass der Blackout in den Köpfen bleiben wird: „In den nächsten Tagen und Wochen werden wir überall da, wo Einsätze stattgefunden haben, nachdenken müssen, was man noch besser machen kann.“ MARTIN TEIGELER
Nein
Die Bedeutung einer Katastrophe bemisst sich nicht an den Verwüstungen oder der Zahl der Opfer, sondern an sendefähigen Bildern und einem Nachrichtenfluss aus dem Krisengebiet. Deshalb sind Naturkatastrophen, die im Westen, in den Vereinigten Staaten, in Österreich oder in Oder-Deutschland passieren, klar im Vorteil, was nicht zuletzt die Dauerbrenner-Hurrican-Saison zeigte, die hundert Mal mehr Aufmerksamkeit erzielte als das Erdbeben in Pakistan.
Und wenn dann das Wetter vor der eigenen Haustür, mitten in Deutschland, verrückt spielt, wird auch aus heimischen Dürremonaten, Rekordregenmengen, Stürmen und Schneemassen ein Topthema mit Liveschalte und Brennpunktsendezeit. Ob es jetzt der heftige Wintereinbruch im Münsterland, verbunden mit einem flächendeckenden Stromausfall, ist oder (in ein paar Tagen) das traditionelle Rheinhochwasser nach der Schneeschmelze. Die Sendeanstalten mieten sich dafür teure Übertragungswagen und Satellitenminuten, die Reporter sind im Dauereinsatz, stehen vor abgegangenen Lawinen oder waten am Flussufer in Gummistiefeln durch große Pfützen.
Am Wochenende versuchten sich die Fernsehleute an etwas komplett Neuem wie Sinnfreiem: Journalisten mit Mikrophonen standen in gleißendem Scheinwerferlicht vor den Linsen, um von der sie umgebenden Dunkelheit zu berichten, dem Stromausfall, von dem zwischen Borken und Gronau bis zu 250.000 Menschen betroffen waren. Es entstanden dabei, selten war das Fernsehen so ehrlich!, Sendungen für die Verschonten. Kamerateams drangen dazu mit Handleuchten ein in düstere, kalte Behausungen von Hausbesitzerfamilien, als suchten sie nach Verschütteten. Helfer vom Technischen Hilfswerk (THW) oder der Freiwilligen Feuerwehr Borken wurden nach ihren Mühen, ihrem Schlaflager und ihrem „Stolz“ gefragt, als hätten die Einsatzkräfte gerade heldenmutig eine Kindergartengruppe aus den Flammen gerettet. Tatsächlich brachten die Männer vom THW einem Landwirt im Münsterland ein Notstromgerät vorbei, damit der seine Kühe melken konnte. Selbstverständlich kam auch der betroffene Milchbauer zu Wort: Wie groß denn der Schaden sei, der ihm jetzt schon durch den Stromausfall entstanden sei? „Wenn meine Tiere eine Euterentzündung bekommen, ich schätz‘ mal so 150 bis 200 Euro.“
Doch wer will das wissen, wenn der Stromausfall gerade Fernsehmachern einen gewaltigen Schreck einjagen muss? Für sie ist das die absolute Katastrophe: ein Wochenende ohne Glotze, ohne Publikum, ohne Einschaltquoten. Nachher könnten die Elektrizitätslosen ja noch Gefallen daran finden, am Samstag ohne das Adventsfest der Volksmusik oder das Aktuelle Sportstudio ins Bett zu gehen.
Doch die Sorge ist völlig unbegründet – leider. Stattdessen klagen die dreist Abgefilmten den TV-Kameras auch noch mit Freude ihr Leid, bis es bald zum Talkshowthema hochgejazzt wird und das Nachtstudio in einigen Wochen die nationale Intelligenzia fragt: „Hatte Schröder einfach nur Pech, kam der Blackout in Nordrhein-Westfalen viel zu spät?“
Die Verkühlten sitzen derweil tränenschwer und demonstrativ schlotternd am Küchentisch, dabei konnten sie längst vom Nachbarhaus Strom abzwacken für die Tiefkühltruhe mit „hochwertigen Lebensmitteln“, längst wärmt sie ein kräftiger Gasstrahler, längst konnten die Zwangsverdunkelten im sonntagsoffenen Supermarkt ihren Hamsterkauf tätigen, längst kam auch das Rote Kreuz vorbei mit der Gulaschkanone: Eine Mutter weinte deshalb fast vor Glück am Samstagabend beim Westdeutschen Rundfunk – seit Freitag habe sie nichts Warmes mehr auf dem Tisch gehabt.
Natürlich ist es kalt und unbequem ohne Strom im Winter. Ohne Herd, ohne Licht und ohne Fernseher. Natürlich ist der Ärger zurecht riesengroß über die eingebildeten Stromgiganten, die Worldplayer aus Nordrhein-Westfalen, deren Heimatnetz nicht einmal vor Wetterunheil und Blitzeis geschützt ist. Natürlich ist das alles sehr ärgerlich – aber es ist beileibe keine Katastrophe.
Dafür fehlen ein wirklich enormer Sachschaden oder zerstörte Existenzen, und zum Glück gibt es bislang auch keine richtigen Opfer dieses unfreiwilligen Energieaussetzers, ausgelöst durch höhere Gewalt.
Nicht ganz: In einer der Münsterland-Gemeinden ohne Strom wurde im Schutze von Dunkelheit und Alarmanlagenauszeit in der Filiale eines großen Versandhändlers eingebrochen. Auch die Diebe und Plünderer scheinen aber ihre Hoffnung in eine strahlende Zukunft voller Energie noch lange nicht verloren zu haben. Gestohlen wurden Elektronikgeräte.CHRISTOPH SCHURIAN