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Archiv-Artikel

Kastanien unter Kontrolle

Wir werden alle ferngesteuert: Das Stück „Angstland“ im Theaterdiscounter will tief in politischen Ängsten schürfen und kommt doch aus dem Seichten nicht heraus. Da hilft auch keine Kanzlerin aus Berlin mit Weltrettungsehrgeiz

Vier Parzellen. Lebensräume. Vermeintlich geschützt vor fremden Blicken. Ein Mann sitzt auf dem Boden einer Parzelle und ordnet Kastanien in langen Reihen auf dem Boden, pedantisch. Wie Spielzeugsoldaten in Reih und Glied warten sie auf ihren Einsatz. Michael M. Oswald heißt der Kastanienmann und bietet dem Zuschauer im Theaterdiscounter wohl eine Parallele zu Lee Harvey Oswald. Der wollte das Weltgeschehen mit beeinflussen und erschoss John F. Kennedy. Im Stück „Angstland“ von Anne Verena Freybott, das am Freitag Premiere feierte, beherrscht er nun die Welt – mit Hilfe von U-Life, einem Computerprogramm.

Denn wir befinden uns im Jahre 2020. U-Life ist überall, kontrolliert das Verhalten der Menschen, verteilt Kreditpunkte, die die Menschen in Geldkasten einteilen. Als ein junger Mann erschossen wird, erklärt das Programm mit sanfter Stimme: „Bemerken Sie, das war ein Terrorist, machen Sie sich keine Sorgen um ihn.“

Die Angst vor der totalen Kontrolle – der Regisseur Oliver Ernst versucht durch klischeehafte Filmzitate und deren Übertreibung, etwas über diese Gefahr auszusagen. Doch seine Figuren tragen schwer an der fehlenden Fantasie und dem banalem Verschwendergeist ihres Schöpfers. Und niemand weiß nach einiger Zeit noch, wohin dieses Stück eigentlich will.

Eine Frau, Modelmaße und vom Computerprogramm als Gespielin registriert, entpuppt sich als Star Wars Lea, hier blond und aus Finnland, aber ebenso verzagt und unbeweglich. Sie sehnt sich nach einem normalen Leben. Ein Bodygard, dem Body-Mass-Index entsprechend, ist ein für den Weltfrieden kämpfendes Mamakind und ihr zukünftiger Geliebter. Nicht fehlen darf die Kanzlerin – aus Berlin. Sie hat keinerlei Ähnlichkeit mit Merkel. Sie zeigt ihre Reize und philosophiert. Rüde zurückgestoßen von den Männern, will sie doch nur die Welt retten.

Was sich im ersten Moment nach utopistischer Panikmache und erhobenem Zeigefinger im Gewand theatralischer Mittel anfühlt, hat einen Hintergrund, der realistischer ist, als aus Oliver Ernsts Inszenierung ersichtlich wird. Der Besucher findet im Programmheft zum Beispiel einen Artikel aus der englischen Tageszeitung The Times: Dort wird ein Projekt der Regierung Südkoreas vorgestellt. Die Schaffung einer Stadt unter der Kontrolle eines Computersystems: Alle wichtigen Informationen werden von diesem Programm verwaltet, das von Beginn an in den Häusern, öffentlichen Gebäuden und Straßen installiert werden soll. U-Citys werden diese Städte genannt, und man träumt nicht nur in Korea davon.

Im Theater wird der Kastanienherrscher Oswald allzu leicht überwältigt. Nachdem er aus seinen Früchten Figuren gebastelt hat, muss er als Programmierer des Weltmediums U-Life abdanken. Er erschießt sich auf Befehl der Star-Wars-Schönheit, und der Theaterbesucher kann aufatmen: Denn in der Welt der Finnin haben nun alle die Pflicht, glücklich zu sein.

Die totale Überwachung – ein Horrorszenarium wird zur lapidaren Kulisse gut gemeinter Gesellschaftskritik mit bekannten Einflechtungen von Du-bist-Deutschland-Kritik, Obersalzberg-Auseinandersetzung und der Thematisierung von Gemüseläden mit Migrationshintergrund. Nur in einem Monolog der Schauspielerin Katharina Bellena als Kanzlerin lässt sich spüren, worum es eigentlich hätte gehen können: Angst. An Figuren von Sarah Kane erinnernd, beschreibt sie verzweifelt Berlin im Jahre 2020. Es herrscht Krieg, und die Kanzlerin, verschanzt in ihrem Amtssitz, sieht Leichen in der Spree vorbeitreiben.

SWANTJE KARICH

9.–11. 12 und 16.–18. 12, Theaterdiscounter, 20 Uhr