: Kohle kommt von Kunst
THEATER STATT ARBEITSAMT Das Künstlerprinzip hält Einzug in die berufliche Bildung. Wer auf der Bühne besteht, der findet besser einen Job. Die Wittener Projektagentur von Sandra Schürmann beweist das seit sieben Jahren
JOBACT-TEILNEHMERIN JESSICA
VON RILO CHMIELORZ
Bereits in den siebziger Jahren proklamierte Joseph Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler!“ Beuys erklärte das Schöpferische als das Künstlerische und erweiterte somit den Begriff Kunst in Hinblick auf Bildung und Soziales. Darüber hinaus forderte er auch einen erweiterten Ökonomiebegriff: „Kunst = Kapital“, weil die Auseinandersetzung mit dem Künstlerischen Erkenntnisgüter schaffe.
Jahrzehnte später scheint es, dass das Künstlerische als Bildungsprinzip endlich Einzug in die Wirtschaft hält. Jedenfalls bekommt man diesen Eindruck, wenn man Arbeit und Erfolg der Projektfabrik betrachtet.
Vor sieben Jahren hat die Projektfabrik ganz klein angefangen. Damals gründet Sandra Schürmann am Gartentisch mit sieben Freunden einen Verein, den sie Projektfabrik nennt. Sandra Schürmann, studierte Sozialarbeiterin, hat eine Idee: Sie will mit jugendlichen Langzeitarbeitslosen Theater spielen. Ihr damaliger Arbeitgeber lehnt diese Idee ab – zu verrückt! Schürmann entscheidet, selbst Regie zu führen. Nur drei Monate später gewinnt sie mit ihrem Konzept, das sie „JobAct“ nennt, unter 1.700 Bewerbungen den Förderpreis „Jugend in Arbeit“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und der Bundesagentur für Arbeit. Seit Gründung der Projektfabrik wurden bundesweit in 39 Städten 112 JobAct-Projekte realisiert. Zwei Drittel der „JobActler“ wurden in den Arbeitsmarkt vermittelt. Oder sie haben versäumte Schulabschlüsse nachgeholt.
Ein Erfolg, der die Stiftung der amerikanischen Bank J. P. Morgan überzeugt hat. Sie fördert den Ausbau des Projekts ideell – und materiell mit 3,5 Millionen US-Dollar. Beuys goes Business.
JobAct hat eine Gesamtlaufzeit von 10 Monaten und wird formell als Maßnahme der Bundesagentur finanziert. Das Projekt gliedert sich grob in zwei Phasen: In der ersten Phase liegt der Schwerpunkt auf der dramaturgischen Arbeit. Unter Anleitung eines Theaterpädagogen entwickeln die Teilnehmer ein gemeinsames Stück. Dabei sind die Jugendlichen nicht nur die Darsteller, sondern sie kreieren auch das Bühnenbild, sie übernehmen die Kostüme, die Maske, Ton, Technik und Öffentlichkeitsarbeit. Gleichzeitig gibt es das Bewerbungscoaching und sie suchen sich einen Praktikumsplatz für die zweite Phase.
Die erste Phase endet nach fünf Monaten mit einer Premiere und ein bis zwei Aufführungen. Danach beginnen die Jugendlichen ihr Berufspraktikum. Sie sind dann an vier Tagen in der Woche im Betrieb, der fünfte Tag ist Seminartag, an dem die Gruppe wieder zusammenkommt und Erfahrungen austauscht.
Wer als Jugendlicher bereits als Langzeitarbeitsloser abgestempelt wird, befindet sich in einer Notlage. Viele haben keinen Schulabschluss und sind bereits von einer Institution und Maßnahme in die nächste vermittelt worden. Bis dahin wurde ihnen immer wieder gesagt, was sie tun sollen, um die Maßnahmenkarriere zu durchbrechen. Jetzt sollen sie auch noch Theater spielen. Und zwar fulltime.
Jessica und Jérôme haben bei JobAct das Stück „Dunkelbunt“ auf die Bühne gebracht haben. Es handelt vom Leben der Jugendlichen: von Sehnsüchten und Wünschen, von Schwierigkeiten und Problemen und wie durch ein faustisches Verwandlungsritual eine Wende herbeigeführt wird. Nach der Premiere erzählen die beiden, dass es am Anfang schwierig gewesen sei und komisch, sich in der Gruppe kennen zu lernen. Einige Teilnehmer seien auch wieder abgesprungen und neue nachgerückt. Jérôme sagt, er habe hier mal ganz andere Leute kennen gelernt als sonst. Aber dann habe die Arbeit Spaß gemacht. Jessica berichtet, sie habe ganz viele neue Freunde gefunden. Sie habe gelernt, mehr aus sich herauszugehen, offener zu sein, Spaß zu haben. Nie habe sie sich vorher vorstellen können, einmal vor großem Publikum aufzutreten. Jetzt tut sie es. Großes Theater.
Das unternehmerische Konzept von JobAct ist so aufgebaut, dass die Projektfabrik sich vor Ort einen Bildungsträger als Kooperationspartner sucht, der die notwendigen Strukturen bietet. Das theaterpädagogische Know-how und die Administration übernehmen Sandra Schürmann und ihre Kollegen. Somit ist JobAct schnell übertragbar und bündelt Energien. Sandra Schürmann sagt heute, dass damals niemand ahnte, dass JobAct irgendwann einmal ein Renner werden würde. Sie hat selbst eine verkrachte Schulexistenz hinter sich: Schule schwänzen, blaue Briefe, von der Schule fliegen. Nur mit Ach und Krach schafft sie das Fachabitur und erst nach dreizehn langen Semestern macht sie ihren Abschluss als Sozialarbeiterin. Während der Schulzeit habe der meiste Unterricht sie gelangweilt – denn er habe so gar nichts mit ihrer Person zu tun gehabt.
Schule bietet Sandra damals keinen wirklichen Raum zur Persönlichkeitsentfaltung. Die geschwänzten Schulstunden verbringt sie im Café und studiert das Leben. Nicht zuletzt aufgrund ihrer eigenen Biografie setzt sie heute auf das Künstlerische als Bildungsprinzip, um Persönlichkeitsentwicklungen, die bei den meisten jugendlichen Langzeitarbeitslosen im Argen liegen, zu unterstützen. Der Rahmen, den sie mit JobAct vorgibt, schafft zwar zunächst Irritation, aber gleichzeitig auch die Möglichkeit, Abwehrhaltungen und Ängste zu überwinden. Jessica und Jérôme haben den Mut aufgebracht, diese Schwelle zu überwinden. Das spüren die beiden auch. Jérôme meint, er sei jetzt ausgeglichener als früher und brause nicht mehr so schnell auf. Jessica ist glücklich, dass sie bereits einen Ausbildungsplatz gefunden hat. Damit geht für sie ein Traum in Erfüllung: Das hätte ich ohne JobAct niemals allein geschafft! Beide überwinden die anfängliche Irritation und lassen sich auf eine Auseinandersetzung mit dem Künstlerischen innerhalb eines spielerischen Theaterprojekts ein.
Das Künstlerische ist kein lineares Prinzip, sondern es muss sich immer wieder neu erschaffen, neue Wege finden und manchmal auch Ausgänge aus Sackgassen. Dieser kreative Prozess läuft zunächst im Kopf ab und erzeugt die Bildung von Erkenntnis. Wenn wir also vom „Künstlerischen als Bildungsprinzip“ sprechen, meinen wir, dass Bildung tatsächlich einen Erkenntnisgewinn haben soll. Kunst und Theater sind visualisierte und sensualisierte, also wahrnehmungsgebundene Formen von Erkenntnis. Erkenntnisse kann man nicht auswendig lernen. Erkenntnisse sind nicht lehrbar, sondern nur versuchsweise initiierbar – und das wird in den JobAct-Projekten geleistet. Die Übertragung selbst vollzogener Erkenntnis ist für den anderen nicht Erkenntnis, sondern Wissen. Erkenntnisse können nicht außerhalb der eigenen Person gemacht werden. Erkenntnisse bedeuten deshalb immer einen neuen Baustein der Persönlichkeitsentwicklung.
Jessica steht heute im ersten Ausbildungsjahr in einer Bäckerei in Wilmersdorf. Gerne denke sie an die JobAct-Zeit zurück und manchmal schaue sie sich noch mal die Videoaufzeichnung an. Ihre Bühne ist jetzt die Brötchen-Theke. Sie fühle sich freier im Umgang mit Kollegen und Kunden. „Ich kann in Stresssituationen cool bleiben, seitdem ich auf der Bühne stand“, sagt sie. Das sieht auch ihre Chefin so, die sehr zufrieden über eine positive Entwicklung berichtet. Jugendliche, die JobAct durchlaufen haben, scheinen bewusster Schritte über neue Schwellen zu wagen.
Jeder Teilnehmer, der in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt wird, erspart dem Staat nach Angaben einer aktuellen McKinsey-Studie 18.600 Euro jährlich. Die Projektfabrik, die mit sieben Leuten am Gartentisch begann, hat heute über 120 feste und freie Mitarbeiter und eröffnete im Herbst 2012 eine eigene Schule für Kunst, Kommunikation und Wirtschaftsgestaltung. „Kunst = Kapital“ – Joseph Beuys würde sich freuen.