Sofort die Straßenseite wechseln!

Sieht so das Leben aus, oder schon der Tod? Das lässt sich nie ganz klären in der sehr russischen Komödie „Fußbodenbelag“ der Brüder Presnjakow, die das Deutsche Theater in einem launigen Spätprogramm spielt

Willkommen in Stussland! Keine Sorge, Sie haben im Erdkundeunterricht nichts verpasst – zumindest das nicht, denn Stussland steht auf keiner Landkarte. Stussland entsteht im Kopf. Ähnlichkeiten mit einem real existierenden Riesenstaat in Osteuropa sind allerdings gewollt und keineswegs zufällig.

Stussland wurde auf Klischees gebaut – von Christoph Mehler in der Kammerbar des Deutschen Theaters. Die Autoren der von Mehler inszenierten Komödie „Fußbodenbelag“, Oleg und Wladimir Presnjakow, haben allerdings gute Vorarbeit geleistet und keines der dunkelsten Bilder ausgelassen, die man von Russland seit Dostojewskis mystizistischen Anfällen so hat. „Botschafter des internationalen Wahnsinns“ nennt das Deutsche Theater die Brüder Presnjakow im Programmheft und hat sichtlich Freude dran, sich selbst zu unterwandern im kleinen Spätprogramm.

„Niemand außer uns braucht uns“, heißt es im Stück. Ganz so hart hätte man es nicht formuliert, doch dieser Satz ist eine Steilvorlage. Nein, wir brauchen euch auch nicht, aber trotzdem schön, dass ihr da seid. Denn erst, wer überflüssig ist, kann von dort aus entdecken, was man noch alles nicht braucht.

Mehr Trash war selten auf der Bühne eines deutschen Stadttheaters. Nebenan ist die Hochkultur zu Hause und hier, in der Kammerbar, die Studenten Nikolai (Sven Walser) und Andrej (Henning Vogt), die gerade erst in ihre neue Wohnung in Jekaterinenburg eingezogen sind, als sie unter dem Fußbodenbelag eine grausige Entdeckung machen …

Was dann passiert, ist so abwegig und wahnwitzig, dass man froh ist, im Theater zu sein und nicht etwa im Kino, das die Essenz eines Films ja schon vor der Premiere vorlaut per Trailer ausplaudert. Trotzdem ist Kino natürlich super, alleine schon weil die Textvorlage der Brüder Presnjakow und Mehlers Inszenierung ohne filmische Vorbilder gar nicht möglich wären. Die sprachlichen Absonderungen der allesamt hochgradig gestörten Figuren erinnern an Küchenphilosophie im Geiste Tarantinos: „Man muss sich mal vorstellen, dass ein und dieselbe Hand Schnaps einschenkt, den Hund streichelt, sich im Schritt kratzt und die Frau schlägt.“

In Mehlers Inszenierung sehen sie alle noch unvorteilhafter aus, als sie reden. Der spackige Nikolai, der Selbstgestricktes trägt und Selbstgedrehte raucht, gerne auch mit Kräuterbeimischung, kommt einem auf den ersten Blick bekannt vor. Die dicke Brille, das strähnige Haar – warum ist Garth ausgerechnet nach Stussland ausgewandert? Kein Bock mehr auf sein tristes Sidekick-Dasein im Studio von „Wayne’s World“? Auch mit Otto könnte Nikolai verwandt sein. Sein Kumpel Andrej wäre gern Brad Pitt, ist aber nur ein x-beliebiger Vorstadtbeau, der halbe Schweine über die Bühne trägt, was hässliche Flecken auf seinem mit blutigen Messern bedruckten engen T-Shirt hinterlässt.

Das Zentrum von Mehlers Inszenierung ist allerdings ihr aufdringlicher Vermieter Igor Igorjewitsch. Dieser Mann ist eine Zeitbombe auf zwei Beinen. Bernd Stempel gibt ihm eine solch gemeingefährliche Aura, das man sofort die Straßenseite wechseln würde, käme er einem dort in seinem zu kleinen Karosakko entgegen.

Zu dritt machen sie sich auf den Weg – wohin, wissen sie nicht genau. Dass sie am Flughafen landen, ist Zufall. Ihre Orientierungslosigkeit geht so weit, dass sie irgendwann nicht mehr wissen, ob sie tot sind oder leben. Ist ja eigentlich auch egal. Das ist kein Klamauk mehr, sondern russische Lebenswirklichkeit – in homöopathischen Dosen.

Regisseur Mehler gibt dem Affen Zucker: Nach 80 Minuten verlässt seine Reisegruppe Stussland. Sie hat alle Klischees besichtigt: Es wurde Wodka aus allerlei Flaschen getrunken, „Kalinka“ gesungen und für die Touristen zwischendurch auch mal mit diesem kehligen Akzent gesprochen, der aus jedem „h“ ein hartes „ch“ macht und in Vorabendserien als russisch durchgeht. Eine letzte Frage: „Womit habe ich das alles verdient?“ – „Mit nichts, und es ist noch schrecklicher und lehrreicher, wenn du es nicht verdient hast.“

DAVID DENK

„Fußbodenbelag“, Kammerbar im Deutschen Theater, 13. + 28. Dezember, um 21 Uhr