„Die Menschen brauchen Perspektive“

PARTIZIPATION Die Armutsmigration wird künftig zunehmen, ist sich die Integrations-beauftragte Monika Lüke sicher. Die Politik müsse sich darauf einstellen, mehr neue BerlinerInnen, etwa aus Rumänien und Bulgarien, zu integrieren – und auch für Notfälle vorzusorgen. Etwa mit einem Obdachlosenheim für Familien in Not

■ 44, ist seit November 2012 Berlins Integrationsbeauftragte. Die Völkerrechtlerin folgte Günter Piening, der das Amt seit 2003 innehatte. Lüke arbeitete nach ihrer Promotion in London für das britische Außenministerium. Von 2009 bis 2011 war sie Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland. Vorher arbeitete sie für die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit in Kambodscha und Kenia sowie als Beraterin in Migrationsfragen für die evangelische Kirche.

INTERVIEW SUSANNE MEMARNIA

taz: Frau Lüke, gerade wird viel diskutiert über die Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren, die angeblich unser Sozialsystem ausnützen wollen. Was sagen Sie dazu als Integrationsbeauftragte?

Monika Lüke: Ich finde diese Debatte nur in wenigen Aspekten realitätsabbildend und lösungsorientiert. Es ist doch so: Armutszuwanderung ist ein konstitutiver Bestandteil der Europäischen Union. Die Pfeiler der EU sind die Grundfreiheiten, dazu gehören auch Arbeitnehmerfreizügigkeit und Freizügigkeit der Personen. Und je größer die Union wird, desto größer ist das Wirtschaftsgefälle. Letztlich bildet sich in der EU ein globales Problem ab: Armutszuwanderung wird es immer geben und sie wird noch viel größer werden. Wir müssen damit leben und dafür Lösungsansätze entwickeln und nicht dagegen. Auch für die Roma gilt: Sie haben ab 2014 die komplette Freizügigkeit, sie werden kommen, und wenn man sie wegschickt, kommen sie immer wieder. Also müssen wir uns etwas einfallen lassen: auf europäischer Ebene, um die wirtschaftliche und politische Lage zu verbessern. Und auf Landesebene, um den Menschen zu helfen, die jetzt hier sind. Das macht der Senat mit dem Aktionsplan zur Einbeziehung ausländischer Roma.

Es gab die Kritik von Roma-Selbstorganisationen, der Aktionsplan habe das Ziel, Roma zurückzuschicken oder zu verhindern, dass sie kommen.

Nein, das Ziel des Aktionsplans Roma ist, unserer grundgesetzlichen Verpflichtung gerecht zu werden, denjenigen, die hier sind, ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Dafür zu sorgen, dass sie nicht auf der Straße leben und krank werden und im Winter in Lebensgefahr sind. Wenn man das komplett und vorausschauend machen will, müssen wir auch die Themen Bildung und Zugang zum Arbeitsmarkt ansprechen. Wir müssen sie daher einbeziehen, damit sie Lebensperspektiven bekommen.

Aber befördert man mit Programmen dieser Art nicht wieder das Stereotyp der armen, hilfebedürftigen Roma, gegen das man eigentlich angehen muss, um aus der Diskriminierungsschleife herauszukommen?

Das ist in der Tat eine Sorge von Roma-Communitys, die schon lange in Deutschland leben. Darum dürfen die Ideen und Vorhaben, die wir jetzt angehen wollen, selbstverständlich nicht nur für Roma gelten. Das muss für alle in Not gelten. Wir dürfen keinen Unterschied machen, etwa wenn wir Berufsbildungsprogramme auflegen, ob es sich um einen Rom handelt aus Bulgarien oder einen Flüchtling oder Geduldeten.

Dann ist der Name Roma-Aktionsplan gar nicht richtig so?

Anlass ist schon ein konkreter, der überwiegend Roma-Ethnien betrifft. Die Zuwanderung aus Südosteuropa ist einfach besonders groß. Bulgaren haben den größten Migrationssaldo, wenn man die Einwanderung nach Berlin von der Auswanderung abzieht, die Rumänen stehen an fünfter Stelle. Man hat zwar aus guten Gründen keine Daten auf ethnischer Basis in Deutschland, aber es gibt Hinweise, dass es sich meistens um Roma handelt.

Woher weiß man das?

Man kann es zum Beispiel sehen, wenn man mit den Kindern in den Einstiegsklassen arbeitet. Wir bekommen dort mit, was deren Muttersprache ist. Und Anlass für den Aktionsplan ist die Erkenntnis, dass durch zunehmende Einwanderung von Menschen aus dieser Gruppe ein gewisser gesellschaftlicher Sprengstoff entsteht.

Warum eigentlich?

Zum einen, weil Roma die geringste Lobby haben. Kaum einer hat eine gute Meinung von ihnen, sie werden vielfach stereotypisiert und diskriminiert. Also muss man etwas für sie tun. Zum anderen gibt es klar benennbare Probleme: zum Beispiel mit der Verwahrlosung von Wohnraum, der dann an Roma-Familien vermietet wird; mit Obdachlosigkeit, die zwar nicht nur Roma betrifft, aber diese besonders häufig. Wenn es auffällt, dass Menschen auf der Straße leben, Kinder nicht in die Schule kommen, dann müssen der Senat und die Bezirke etwas machen. Im zweiten Schritt ist es aber wichtig, dass wir Maßnahmen nicht nur auf eine Gruppe beschränken.

Was will der Aktionsplan konkret wie angehen?

Er konzentriert sich auf die brennendsten Bereiche: zum einen Wohnen, zum anderen Gesundheit. Viele Kinder sind in einem schlechten Gesundheitszustand, haben nicht die nötigen Impfungen, es gibt überdurchschnittlich viele Fälle von Tuberkulose. Die dritte Ausgabe heißt Bildung: dass die Kinder einen Platz in der Schule bekommen, klarkommen mit dem Deutschen oder als Jugendliche einen Ausbildungsplatz finden.

In Neukölln, wo viele Roma leben, gibt es schon Impfprogramme, Willkommensklassen zum Deutschlernen, Sprach- und Kulturmittler als Integrationslotsen.

Genau. Der Aktionsplan wird mit den Bezirken erarbeitet. Die mobile Beratung soll verstärkt werden, aufsuchende Beratung. Roma-Organisationen sollen beauftragt werden, in die Bezirke, auf die Straßen zu gehen und die Menschen anzusprechen, sie beraten bei sozialen Fragen, Mietfragen, Schulfragen.

Stichwort Wohnen: Die Neuköllner Bezirksstadträtin Franziska Giffey befürchtet, dass es 2014, wenn Rumänen und Bulgaren hier wie andere EU-Bürger normal arbeiten dürfen, zu massenhafter Obdachlosigkeit kommt.

Das Thema ist eines der drängendsten, das sehe ich auch so. Aber es ist schwierig, weil Wohnbedarf hier gerade ein grundsätzliches Problem ist. Auch biodeutsche Familien, die von Hartz IV leben, drohen auf der Straße zu stehen. Dann haben wir die Aufgabe, Asylbewerber unterzubringen – und hinzu kommen jetzt die Roma-Familien. Es gibt derzeit etwa kaum Möglichkeiten, Familien unterzubringen, die obdachlos geworden sind. Das haben wir uns fest auf die Fahne geschrieben: Ich setze mich dafür ein, eine Notaufnahmestelle für Familien zu schaffen.

Wie weit sind Sie in den Verhandlungen darüber mit den anderen Senatsverwaltungen?

Ziemlich weit. Weswegen ich zögere, darüber zu reden, ist: Natürlich ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn sie eine Unterkunft haben.

„Da müsste man insgesamt was tun beim Thema Wohnen, Bauen, Mieten“

Können Sie noch konkreter werden: Wo soll das Wohnheim entstehen, für wie viele Personen soll es sein?

Wir haben eine Immobilie identifiziert, mehr kann ich dazu noch nicht sagen. Aber das Problem ist ja auch viel größer, das kann nur ein Anfang sein. Ich werde auch auf die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften einwirken, dass sie Wohnungen an Roma vermieten. Es gibt ja die Vereinbarung, dass Wohnungsbaugesellschaften ein Kontingent an Wohnungen für Asylbewerber zur Verfügung stellen. Nur wird das geschützte Marktsegment kleiner beziehungsweise es gibt immer mehr Menschen, die dafür in Frage kommen: Asylbewerber, Hartz-IV-Bezieher, Roma-Familien. Da müsste man insgesamt was tun beim Thema Wohnen, Bauen, Mieten. Ganz dringend und unabhängig von Fragen der Roma.

Das heißt, bei diesem zentralen Thema können Sie gar nicht so viel machen.

Ich sehe das anders. Es ist zwar schwierig, eine Lösung zu finden für alle Bedürftigen. Aber wir sind einen Schritt vorangekommen mit dem Vorhaben, eine Möglichkeit für obdachlose Familien zu finden. Und dadurch, dass das Thema als eines der drängendsten im Aktionsplan steht, sind Bezirke und gesamtstädtische Institutionen in der Pflicht, daran weiterzuarbeiten. Der Aktionsplan ist ja nur ein Aufschlag, der politische Prioritäten aufzeigt. Letztlich werden wir uns an der Umsetzung messen lassen müssen.

Die Verhandlungen, wie viel der ganze Aktionsplan kosten darf, laufen noch?

Die Verhandlungen hängen vom Berliner Haushalt ab. Da kann das Parlament letztlich auch ein Bekenntnis für die Einbeziehung von Roma abgeben. Die Vorbereitungen der Haushaltsverhandlungen laufen. Aber wichtig ist schon mal, dass wir die Themen als politische Prioritäten festgezurrt haben – und der Senat sie hoffentlich im April verabschieden wird. Das wäre schon mal eine Maßgabe für den Haushalt, den das Parlament dann hoffentlich unterstützt.

Und Sie glauben, dass die CDU den Aktionsplan mittragen wird? Die ist ja nicht als Speerspitze der Roma-Integration bekannt.

Auch die CDU wird sehen, dass es sich dabei um vorausschauende Politik handelt. Und es zudem Handlungsbedarf gibt, den man nicht einfach wegdrücken kann. Auch die CDU wird 2014 im Blick haben.