: „Kein Deal ist immer besser als ein schlechter Deal“
Entwicklungsländer sollten sich nicht zu einer Marktöffnung drängen lassen, meint Myriam Vander Stichele, Beraterin für NGOs
taz: Die EU erwartet zwar in Hongkong keinen Verhandlungsdurchbruch mehr – hofft aber nach Aussage mehrerer Vertreter doch noch, dass sich wenigstens bei der Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte etwas tut. Was ist hier das besondere Interesse der EU?
Myriam Vander Stichele: Die EU ist einer der wichtigsten Exporteure von Dienstleistungen wie Bank- und Versicherungsdiensten, Telekommunikation und Wasserversorgung. Die europäischen Konzerne wollen bessere Exportchancen. Bei Dienstleistungen, die man ja nicht einfach verschiffen kann, läuft das vor allem auf mehr Auslandsinvestitionen hinaus.
Wenn auf diese Weise Firmen aus dem Norden dringend benötigtes Kapital in den Süden bringen, nützt das dann nicht beiden Seiten?
Zum einen profitieren davon nur die ohnehin schon relativ wohlhabenden Entwicklungsländer wie Malaysia oder Brasilien, die lukrative Märkte für die Konzerne darstellen. Zum anderen picken diese sich nur die lukrativeren Kunden heraus. Das hilft den Teilen der Gesellschaft nicht, die tatsächlich bessere Infrastruktur oder besseren Zugang zu Bankkrediten gebrauchen könnten.
Die Armen haben doch jetzt schon oft keinen Zugang zu bestimmten Dienstleistungen. Das würde sich durch eine Marktöffnung vielleicht nicht verbessern, aber wohl kaum noch verschlechtern.
Möglicherweise doch. Wenn den kleineren heimischen Banken und Versicherern nur noch die weniger lukrativen Geschäfte bleiben, können sie es sich bald nicht mehr leisten, ihre Dienste ärmeren Kunden zu vertretbaren Preisen anzubieten. Oder wenn Wasserkonzerne anders keine ausreichenden Profite erwirtschaften können, dann erhöhen sie die Preise und stellen die Versorgung schwer erreichbarer Gebiete ein.
Die Entwicklungsländer können unter dem WTO-Dienstleistungsabkommen ja nicht gezwungen werden, den Liberalisierungswünschen des Nordens nachzugeben, tun es aber trotzdem oft. Zeigt das nicht, dass sie sich trotz allem Vorteile davon versprechen?
Das Wichtigste für den Süden ist derzeit, dass die EU und die USA ihre Agrarmärkte öffnen und ihre Landwirtschaftssubventionen abbauen. Wenn das nur um den Preis einer Öffnung des Dienstleistungssektors zu haben ist, wird sich so manche Regierung im Süden darauf einlassen. Überdies glauben viele auch den Behauptungen, dass die Dienstleistungsanbieter aus dem Norden viel effizienter seien und daher auch die Wirtschaft im Süden effizienter machen würden.
Das glauben Sie offenbar nicht.
Diese Regierungen vergessen, dass es ihr eigener Dienstleistungssektor dann viel schwerer hat, sich zu entwickeln. Und noch etwas: Die Liberalisierung der Finanzdienstleistungsmärkte bedeutet oft, dass die nationalen Regulierungssysteme geschwächt werden. Beispielsweise können nationale Regierungen dann kaum noch den Abfluss des Kapitals ausländischer Investoren einschränken. Weitere Krisen wie die Asienkrisen werden so nicht gerade unwahrscheinlicher.
Würden Sie ein Scheitern der Verhandlungen in Hongkong begrüßen?
Kein Deal ist immer besser als ein schlechter Deal. Die Entwicklungsländer sollten sich nicht zu einer Marktöffnung drängen lassen, bevor sie deren Konsequenzen vollkommen abschätzen können. Aber ich bin nicht sicher, ob Hongkong scheitert. Es gibt neuerdings Anzeichen, dass Brasilien und Indien zu einem Kompromiss bereit sein könnten, um eine Öffnung der Agrarmärkte dafür zu bekommen.INTERVIEW: NICOLA LIEBERT