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Archiv-Artikel

Der Tod, das Geld und das Böse

DETAILVERSESSENHEIT Ein transzendentaler Actionthriller, in dem erstaunlich oft von der Seele die Rede ist: Der Autor Ernst-Wilhelm Händler macht sich auf die Suche nach dem, was bleibt, in einer „Welt aus Glas“

„Welt aus Glas“ ist ein streckenweise brillanter Roman – doch viel, viel zu lang

Hin und wieder lohnt es sich, im Fundus deutscher Sprichwörter zu stöbern. „Glück und Glas, wie leicht bricht das“, heißt es da beispielsweise. In größtmöglicher Vereinfachung oder Bösartigkeit könnte man behaupten, die Botschaft von Ernst-Wilhelm Händlers neuem Roman wäre damit bereits zusammengefasst. Doch so ist es selbstverständlich nicht. Obwohl das Glas eine tragende Rolle spielt. Und das Glück ohnehin. Nur ist Letzteres bereits zerbrochen, als alles anfängt. Und wie es anfängt! „Welt aus Glas“ ist Händlers mittlerweile sechster Roman, und so rasant und furios wie dieser ist bislang noch keiner gestartet.

Mehrere Millionen Dollar

In einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd fliehen Jacob Armacost und seine Begleiterin Madeline von Tijuana aus in Richtung US-amerikanische Grenze. Ihr Verfolger ist ein gewisser Chuy, ein mexikanischer Polizist, der nun aber eindeutig nicht im Auftrag von Recht und Gesetz handelt. Nach diversen Manövern werden Jacob und Madeline geschnappt, Schnitt und Blende in eine völlig andere Welt: In Mailand begibt sich Jillian Armacost in eine unterirdische Höhle, in der eine sagenhafte Sammlung von Werken des Glaskünstlers Napoleone Martinuzzi aufgetaucht ist. Jillian will die Sammlung erwerben, unbedingt. In zwei parallelen Handlungssträngen entfaltet Händler aus dieser Konstellation heraus seine Erzählung.

Schnell wird klar, dass sowohl Jillian als auch der doppelt so alte Jacob Geld brauchen, mehrere Millionen Dollar, um eine Fehlspekulation Jacobs auszugleichen und die gemeinsam betriebene New Yorker Galerie für Glaskunst zu retten. Jacob ist mit seiner reichen Kundin Madeline nach Mexiko gefahren, um den von Madeline ersponnenen irrwitzigen Einfall zu prüfen, die Grenze zwischen Mexiko und den USA als gläserne Mauer zu errichten. Beide sind Betrüger: Jillian plant, ihre Geschäftspartnerin übers Ohr zu hauen und Jacob zu verlassen; der notorische Frauenheld Jacob definiert seinen Status über beinahe ausschließlich sexuelle Qualitäten, fängt ein Verhältnis mit Madeline an und fällt schließlich auf einen Lockvogel herein, der Madeline und ihn in die Hände der Entführer spielt. Nun sitzt Jacob gefesselt in einem Wohnwagen in der Wüste, während seine Frau Jillian in Italien Geschäfte macht.

„Welt aus Glas“ ist der, wie bei diesem Autor nicht anders zu erwarten, hoch ambitionierte Versuch einer philosophisch-reflexiven Verschmelzung von Geist und Materie, in diesem Fall des Glases mit den Gedankenwelten derjenigen, die mit ihm zu tun haben, mit ihm handeln, es erwerben oder ausstellen. Das Glas ist Resonanzboden und Spiegel, Brechungsfaktor und doppelter Boden. Das lässt gerade die Passagen, die von der eigentlich lesbischen, lichtallergischen Jillian erzählen, zu einer echten Herausforderung werden, und auch das ist nichts Neues im Fall von Ernst-Wilhelm Händler.

Doch bei allem Respekt – man würde sich gerade in diesem Fall wünschen, dass jemand einmal mit dem dicken Rotstift durch das Manuskript gegangen und gestrichen hätte. „Welt aus Glas“ ist ein phasenweise bestechend gutes Buch. Aber es ist zu lang, zu lang, viel zu lang. Fraglos konstituiert Händler seine Welt aus einer präzisen Wahrnehmung, doch ob es darum gleich der seitenlangen Beschreibungen von Glasvasen und deren Herstellungsprozess bedarf, einer geradezu manischen Detailversessenheit, mit der jedes Zimmer, jedes Kleidungsstück, jede Regung protokolliert wird?

Läuterung im Tod

Davon abgesehen, ist „Welt aus Glas“ ein hochkomplexes Werk voller Ideen, in dem, gemessen an der Kälte der Sprache, erstaunlich oft von der Seele die Rede ist und das am Ende auf die große Frage nach dem Guten und dem Bösen und darüber, wie es sich auf die Menschen verteilt, zuläuft. Jillian (psychologisch zweifellos die Interessantere der beiden Protagonisten), die unfähig ist, sich selbst und die Welt als Einheit zu begreifen und zu betrachten, die, wie es heißt, „hinter einer Glaswand“ lebt und die in der Glaskunst eine Form des Daseins erkennt, eine Gestaltung von Leben, die außerhalb des Menschlichen liegt – diese undurchsichtige Nachtgestalt durchläuft eine Läuterung in Form eines imaginierten Todes und einer Wiederauferstehung. Der Tod, das Geld und das Glas – in immer neuen Spielarten bringt Händler diese drei Motive zusammen.

„Früher“, so sagt Jillian zu einem ihrer Kunden, „war ich ein egoistisches Arschloch.“ Das sei sie nun nicht mehr, „jetzt habe ich das Gefühl, ich bin gar nichts mehr“. Von der Zerbrechlichkeit von Gewissheiten, von der Sicherheit des Geldes und davon, wie viel dem Menschen von Natur aus zukommt und was er sich aneignet, erzählt Ernst-Wilhelm Händlers neuer Roman. Vielleicht nicht sein bester, aber doch einer der zugänglicheren: eine komplexe Actiongeschichte im transzendental-durchsichtigen Gewand. CHRISTOPH SCHRÖDER

Ernst-Wilhelm Händler: „Welt aus Glas“. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2009. 608 Seiten, 25 Euro