Robin Alexander über SCHICKSAL : Es heißt stille Nacht. STILLE NACHT !
Im Advent kennt die Konsumgesellschaft wirklich keine Gnade. Nur ich weiß, wo es Rettung gibt
In der Vorweihnachtszeit sehnen sich viele Menschen nach Stille. Nach Orten, an denen kein Glühweinduft weht und kein X-Mas-Techno wummert. Orte, an denen es weder rote Nasen noch rote Mützen gibt. Orte des Friedens. Eigentlich gibt es in ganz Berlin nur noch einen einzigen solchen Ort: den Salon meines Friseurs. Er ist nicht nur den Verbrechern des Einzelhandels versperrt, sondern auch den Frauen. Mein Friseur ist Türke und stockschwul. Das bedeutet nicht, dass er beim Schneiden mit lustigem Akzent weibisch daherschwätzt und ganz viele Kundinnen hat, weil er sie so besonders gut versteht. Das hier ist keine deutsche Kinokomödie, sondern das Leben. Mein Friseur spricht akzentfrei deutsch, aber scheinbar nicht gerne und schon gar nicht mit Frauen. Und genauso geht es mir auch manchmal.
Dabei sind wir durchaus kommunikativ. Bei meinem Besuch vor einem halben Jahr führten wir ein Gespräch von solcher Präzision, dass ich es heute noch vollständig im Kopf habe:
– Alles klar? Was Neues?
– Bin Vater geworden.
– Glückwunsch. Kurz wie immer?
Und bei meinem letzten Besuch sprachen wir:
– Alles klar?
– Klar. Und selbst?
– Hatte einen Autounfall. War aber nur zwei Wochen im Krankenhaus.
– Scheiße. Wieder alles klar?
– Klar. Kurz wie immer?
Bei diesem Mann bin ich sicher- selbst in der Weihnachtszeit, denke ich auf dem Weg zu seinem Laden. Hier werde ich keine Auskunft geben müssen, welche Geschenke ich schon gekauft habe. Und ich werde bestimmt keine Informationen aufgedrängt bekommen, was fremde Menschen Widerliches bei ihren Schwiegereltern essen müssen. Ich freue mich auf eine halbe Stunden Schweigen. Vielleicht sogar fünfundvierzig Minuten – wenn ich Glück habe und warten muss.
Aber der Mensch denkt und der Teufel lenkt. Der Schweiger ist Verlockungen des Geldes erlegen! Aus meinem treuen Figaro ist ein Unternehmer geworden: Er hat expandiert und ein weiteres Geschäft in einem anderen Stadtbezirk eröffnet, wo er jetzt besser gestellte Kunden beschweigt. Im alten Laden waschen, schneiden, legen für 12 Euro ohne Termin jetzt zwei Angestellte. Das alles erfahre ich in ca. 15 Sekunden. Von der Friseuse. Außerdem ihren Namen. Und den Namen ihrer Kollegin. Und ihres Chefs. Und ihren Verdienst. Und seinen.
Ich schweige. Sie fragt mich, ob ich schon alle Geschenke hätte. Ich schweige lauter. Sie fragt mich, an welchem Feiertag ich zu meinen Schwiegereltern müsse. Ich schweige donnernd. Sie fragte mich, ob ich etwas gegen Kommunikation hätte. Ich schweige hysterisch.
Da lässt sie endlich ab von mir und bis auf das Brummen ihres Rasierers wäre die Welt still. Wenn die Welt nur einen Quadratmeter groß wäre. Ist sie aber leider nicht. Neben dem stillen Quadratmeter steht noch ein Rasierstuhl. Darauf sitzt der kleine Kevin, daneben seine Mutter und dahinter eine weitere Friseuse. Und von dort quillt etwas in die Welt, was man nur als den X-mas-Techno unter den Gesprächen bezeichnen kann:
– Er kriegst zu Weihnachten ’ne Glatze.
– Ich will aber meine David-Beckham-Frisur behalten.
– Warum soll er denn nicht seine David-Beckham-Frisur behalten?
– Weil er schon zwölf Mittelohrentzündungen gehabt hat und ihm neulich das Trommelfell gerissen ist. Deshalb kriegt er jetzt eine Glatze, damit er am Kopf friert und die Mütze aufsetzt.
– Ich will aber nicht.
– Lassen wir doch einen Millimeter stehen. Das ist eine Fastglatze. Soll ich dir noch Zickzacklinien reinrasieren. Ein Weihnachtsmuster?
– Geil.
– Na, sehen Sie, Glatze und trotzdem zufrieden.
– Okay, und wenn er jetzt nicht die Mütze aufsetzt und zu Weihnachten wieder krank ist, dann kann er seine neue Playstation vergessen.
Bald ist Weihnachten. Stille Nacht. Heilige Nacht. Man muss nur dran glauben.
Fragen zum Schweigen? kolumne@taz.de Morgen: Susanne Lang über DIE ANDEREN