„Wir machen das Theater wichtig“

GLÜCKSFÄLLE 50 Jahre Theatertreffen – ein Gespräch mit Franz Wille, Juror und Redakteur von „Theater heute“

■ Der Juror: Franz Wille, geboren 1960 in München, ist seit 1990 Redakteur von Theater heute. Er war zweimal Mitglied der Kritikerjury, die zehn Inszenierungen auswählt, für die Theatertreffen 2002/03/04 und 2011/12/13.

■ 50 Jahre: Vom 3. bis 20. Mai geht das Theatertreffen, das zum 50. Mal ausgewählte Inszenierungen nach Berlin einlädt. Gefeiert wird das Jubiläum mit einem Festakt und der Publikation „Fünfzig Theatertreffen“.

■ Die Auswahl: Eingeladen sind neue Inszenierungen von Michael Thalheimer, Herbert Fritsch, Luk Perceval, Sebastian Hartmann, Johan Simons, Jérôme Bel, Katie Mitchell, Sebastian Baumgarten, Karin Henkel, Sebastian Nübling.

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

sonntaz: Herr Wille, erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Besuch beim Theatertreffen?

Franz Wille: Das war „Yvonne, die Burgunderprinzessin“ in einer Inszenierung von Luc Bondy, 1981. Das war mein erstes Theatertreffen, und seitdem habe ich so gut wie alles gesehen.

Lebten Sie denn damals schon in Berlin?

Ich bin 1981 nach Berlin gekommen, um Theaterwissenschaften und Germanistik zu studieren. Bis dahin hatte ich vom Theatertreffen noch nie gehört, aber schon nach dem ersten Mal war ich absolut begeistert. Seitdem bin ich ein dankbarer Fan dieser Veranstaltung. Hier habe ich einen wichtigen Teil meiner Seherfahrungen gemacht.

Dreißig Jahre sind lang.

Und vor allem 300 Inszenierungen.

Dieses Jahr wird das Theatertreffen 50 Jahre alt. Es war lange eine Westberliner Institution. Trägt es davon noch Spuren?

Ja und nein. Als es 1964 gegründet wurde, hatte die Entscheidung für Berlin sicher ihre Berechtigung. Berlin war bis zum Zweiten Weltkrieg die deutsche Theaterhauptstadt. Das war danach erst mal vorbei. Die deutschsprachige Theaterlandschaft war bis zum Krieg eher hierarchisch: Erst kam Berlin, dann die Provinz. Das wurde nach dem Krieg auf eine sehr angenehme Weise dezentral. Es entstanden ein Dutzend Theaterstädte auf vergleichbarem Level, die gibt es bis heute. Dass man gerade in der Leerstelle Berlin, in dieser Zeitkapsel, den Ort verankert hat, wo sie zwei Wochen lang ein bisschen Theaterhauptstadt spielen, hat mir immer sehr eingeleuchtet.

Aber jetzt hat Berlin doch selbst wieder viele Theater.

Die hatte es früher auch. Natürlich hängt noch etwas von dieser Zeitkapsel, die Westberlin einmal war, in diesem Theatertreffen drin. Das hat auch mit dem Haus der Berliner Festspiele zu tun, das schon früher, damals noch als Freie Volksbühne, der Hauptort des Theatertreffens war. Dieser Bau atmet die Atmosphäre der besseren Nachkriegsmoderne der sechziger Jahre. Das gefällt mir.

Theater ist flüchtig. Kennen Sie als Theaterwissenschaftler trotzdem Inszenierungen der sechziger und siebziger Jahre?

Klar. Das hat man sich angeeignet über Kritiken und hauptsächlich über Fernsehaufzeichnungen. Das ZDF und auch die ARD haben damals wesentlich mehr aufgezeichnet als heute. Wenn man zugänglich machen könnte, was da alles in den Fernseharchiven schlummert, das ist ein Schatz an Zeit- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik. Der müsste dringend mal systematischer gehoben werden.

Warum?

Man kann daran viel ablesen, was die Problemfelder waren, was die Leute aufgeregt hat, wie gedacht und gefühlt wurde – und auch, was man nicht zur Sprache gebracht hat, was man für selbstverständlich hielt. Wenn man allein die Tschechow-Rezeption von Noelte über Karge/Langhoff, Zadek und Stein zu Gosch betrachtet, könnte man wie auf einer Perlenschnur sicher eine Nachkriegsmentalitätsgeschichte aufblättern.

Über Steins berühmte Inszenierung der „Drei Schwestern“ schrieben Sie: Wenn man sich das heute anguckt, steckt da viel mehr Westberliner Kulturbürgertum drin als Tschechows Zeit.

Neulich habe ich mir die Aufzeichnung wieder angeguckt. Da sieht man viele Dinge, die man damals nicht gesehen hat, weil sie einem selbstverständlich vorkamen – wie die luxuriöse Leidenslarmoyanz dieser Figuren, eines von sich selbst gelangweilten Bürgertums.

Das Theatertreffen im Mai ist ein Höhepunkt im Theaterjahr. Zu Anfang der nächsten Spielzeit kommt dann die Umfrage ihrer Zeitschrift Theater heute nach den wichtigsten Theatern, Inszenierungen, Schauspielern der Saison heraus. Vor zwei Jahren hat Ihnen der Schauspieler Peter Kern in einem Text vorgeworfen, mit der Machtfülle von Theater heute den Theatern zu diktieren, was sie tun.

Ich habe Peter damals angerufen und gesagt: Danke für das Kompliment, es wäre schön, hätten wir die Macht, die du uns da unterstellst. Peter Kern war schon immer ein sehr polemisches Talent. Aber Sie wissen es als Kritikerin selbst: Kritiker hassen eines am meisten, nämlich wenn sie merken, sie werden instrumentalisiert. Die Vorstellung, dass eine Zeitschrift oder eine Redaktion ihre Mitarbeiter zu einer Meinung bringen könnte, die sie nicht wollen, ist völlig absurd. Das würde nie klappen. Die einzige Macht, die das Theatertreffen und hoffentlich auch Theater heute hat, ist: das Theater wichtig zu machen.

Das Theater wichtig zu machen ist mit Anstrengungen verbunden. Vor allem für die Theater selbst, die sich in in der Defensive sehen, zu legitimieren, für wen sie als ein subventionierter Kulturbetrieb arbeiten.

Das muss nicht nur ein Schaden sein. Es ist nicht schlecht, wenn Theater gezwungen ist, darüber nachzudenken, warum es da ist.

Hat das auch neue Dinge hervorgebracht?

Ja, eine Öffnung dem Publikum gegenüber. Eine Haltung, wie sie die Schaubühne unter Peter Stein auch mit einer gewissen Arroganz kultiviert hat, ein Tempel der Kunst zu sein, vor dem man erst einmal demütig in die Knie zu gehen hat – das würde heute nicht mehr funktionieren, nicht mal im Wiener Burgtheater. Natürlich hat die Staats- und Stadttheaterlandschaft im deutschsprachigen Raum, die ja weltweit einmalig ist, riesige Möglichkeiten. Die Kehrseite des Betriebs ist eine gewisse Routinisierung, weil man aus Betriebsgründen gezwungen ist, im Jahr zehn, fünfzehn, zwanzig Inszenierungen herauszubringen. Darüber kann man schnell mal vergessen, warum man eigentlich Theater macht.

Woher kommt dieser Produktionsdruck?

Der ist durch die Finanzierungsdebatten der vergangenen zwanzig Jahre noch größer geworden. Vor fünfzehn Jahren gab es nach der Statistik des Deutschen Bühnenvereins knapp 3.000 Neuinszenierungen im Jahr bei über 3.000 festangestellten Schauspielern, heute haben wir über 4.000 Neuinszenierungen bei 2.000 festangestellten. Die Theater haben die Schlagzahl massiv erhöht und diese Abnutzungserscheinungen und Ermüdungen sind bedrohlich. Dagegen ist das Theatertreffen, wenn man es gut hinkriegt, ein Gegenmittel. Wenn man da kluge Inszenierungen zeigt, die entschieden wissen, warum sie da sind, die die Gefährdung der Routine in Eigenblutdoping wenden, dann ergibt die Sache Sinn.

In den vergangenen beiden Jahren waren mehr freie Projekte eingeladen, mehr performative Formate. Dieses Jahr erwarte ich nicht so viele Überraschungen, man kennt die Handschriften der Regisseure Thalheimer, Fritsch, Simon, Mitchell. Gab es im Diskussionsverlauf keine Überlegung, dass man die Öffnung fortsetzen möchte und dezidiert nach dokumentarischen oder performativen Stücken sucht?

Gerade beim Theatertreffen, das aus guten Gründen kein scharfes inhaltliches oder formales Kriterium hat, sondern nur das berühmt schwammige „bemerkenswert“, muss man aufpassen, dass das Programmatische nicht ideologisch wird. Man hat sowieso immer Angst, dass man etwas Interessantes übersieht. Man muss, was die Künstler machen, ja auch erst einmal verstehen und wertschätzen. Das geht automatisch leichter bei Inszenierungen, die man schon zuordnen kann. Deshalb ja die Angst im Nacken: Fällt etwas durch das Raster, weil meine Art zu sehen nur bestimmte Dinge wahrnimmt? Jede Jury würde ja gern etwas Neues entdecken, ein neues Format, wie damals die Pratertrilogie von Pollesch 2002. Das sind die Glücksfälle, wo auf dem Waldboden ein Pilz sprießt, den man noch nie gesehen hat. Aber ob der nun in diesem Jahr gerade sprießt oder im nächsten – das wird auch überbewertet.

Trotzdem verleitet eine Einladungsliste wie dieses Jahr zu dem Schluss: Es entwickelt sich gerade nichts weiter. Ist das nicht besorgniserregend?

Ich sehe das nicht so. Ich bin ja Partei, ich habe das mit ausgewählt, ich sehe da nichts Besorgniserregendes. Für mich hat jemand wie Sebastian Hartmann mit „Krieg und Frieden“ einen Sprung gemacht. Man muss da auch genauer hingucken, das ist vielleicht nicht so offensichtlich. Das gilt auch für Sebastian Baumgarten mit der „Heiligen Johanna“ oder andere Einladungen. Da ist einiges überraschend.

Trotzdem ist der Wunsch verständlich, aus dem Theatertreffen eine Zustandsbeschreibung des Theaters abzuleiten.

Ich finde die Debatte, das Theatertreffen habe sich geöffnet, etwas übersteuert. Die Jury kann sich die Produktionen nicht selbst backen. Wenn sich das Theater verändert, kann man auch wieder neue Dinge einladen. Was da in den nuller Jahren und danach an Veränderung passiert ist, wurde vom Theatertreffen deutlich wahrgenommen. Es hat aber auch mit veränderten Finanzierungsmöglichkeiten, mit neuen Spielstätten, neuen Produktionsmöglichkeiten zu tun.

Haben Sie eine Utopie von Theater?

Das Nature Theatre of Oklahoma hat einen Podcast aufgelegt, den kann man bei iTunes abonnieren. Da sagt Marten Spangberg, ein schwedischer Choreograf und Allroundkünstler: „Theatre is a concept to look at things differently.“ Das leuchtet mir ein.