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Archiv-Artikel

Reißende Bäche im Spielzimmer

Statussymbole definieren schon bei Kleinkindern die Position in der Gruppe

AUS WUPPERTAL LUTZ DEBUS

Die Kinder gehen über Tische und Bänke. „Nein, das ist unsere Burg“, wird der Besucher belehrt. „Ich bin ein schwarzer Drachen!“ „Und ich ein grüner!“ Zwei Knirpse haben sich vor dem Gebirge aus Stühlchen und Tischchen aufgebaut. Keine Angst vor den beiden Drachen hat die Prinzessin, die oben auf dem Möbelberg thront. Sie trage ein weißes Flatterkleid und eine Krone mit Smaragden, sagt die Kleine. Nur Menschen, die keine Fantasie haben, sehen in ihr nur das blonde Mädchen mit Pagenschnitt und leicht laufender Nase.

Seit Anfang des Jahres gibt es in der Evangelischen Tageseinrichtung für Kinder in Wuppertal-Katernberg kein Spielzeug mehr. Ein dreimonatiges Experiment. Bis Ende März sollen die kleinen Besucher des Kindergartens ohne Teddy, Puppe, Lego, Playmobil, Auto, Eisenbahn und Bauklötze spielen. Die Idee dazu hatte Ellen Spiecker, die Leiterin der Einrichtung, als dieses Modell vor einem Jahr während einer Fortbildungsveranstaltung der Suchtprävention Wuppertal (s. Kasten) vorgestellt wurde. Bereits Anfang der 1990er Jahre hatte man mit dem Projekt „Spielzeugfreier Kindergarten“ in Bayern gute Erfahrungen gemacht. Die 50-Jährige war begeistert. Es dauerte ein wenig, Kolleginnen und Eltern zu überzeugen. Aber dann waren alle einverstanden, das Projekt zu starten.

Einige Zwerge krabbeln durch den niedrigen Stollen einer Mine, fördern Gold, Silber und Edelsteine zu Tage. Nur Einfältige würden behaupten, dass hier Jungs unter einer Reihe von Stühlen kriechen. Mit leuchtenden Augen zeigen sie die Mineralien vor, die sie dem Berg abgetrotzten haben. Tonkügelchen aus der Hydrokultur? Blödsinn! Mindestens 24 Karat, weiß einer der Zwerge. Kunststück, seine Mutter ist Goldschmiedin. Andere Waldbewohner, wahrscheinlich Kobolde oder Trolle, bahnen sich einen Weg durch die unwirkliche Landschaft. Nur Erwachsene würden in dem fast unüberwindlichen Hindernis zwei Holzkisten erkennen, die in einem Abstand von einem halben Meter verkehrt herum auf den Linoleumboden gestellt wurden. Jedes Kind weiß doch, dass es sich um Felsvorsprünge handelt, die in einen reißenden Gebirgsbach ragen. Der fünfjährige Oliver ist etwas korpulent. Wahrscheinlich wird sein rechtes Knie gerade nass. Sein linker Fuß berührt noch den einen Felsen. Mit den Händen ist er schon am gegenüber liegenden, rettenden Ufer. Er macht sich ganz steif, holt Schwung und passiert unbeschadet das Wildwasser.

Schon am ersten Tag sei zu beobachten gewesen, wie durch den Verzicht auf Spielzeug ein völlig neues Sozialgefüge zwischen den Kindern entsteht, erklärt Ellen Spiecker. So habe etwa eine rotblonde Sechsjährige, ein echtes Alpha-Tierchen, zunächst völlig verunsichert reagiert. Noch Ende letzten Jahres war sie die heimliche Chefin der Puppenecke. Sie bestimmte dort, wer mit wem was spielte.

Doch auf einmal gab es keine Puppenecke mehr. Ein anderes Mädchen hatte die erste Idee, was mit diesem spielzeugfreien Kindergarten anzufangen sei. Die Fünfjährige, die vordem eher eine Außenseiterin war, baute mit einigen Stühlen die Sitzreihen eines Busses nach. Und schon begann eine abenteuerliche Reise. Die ehemalige Chefin der Puppenecke fragte nur schüchtern, ob sie mitfahren dürfe. Ohne Revier erschien sie machtlos. Statussymbole, so Spiecker, spielen schon bei Kleinkindern eine große Rolle, um die Position in der Gruppe zu definieren. Diejenigen, die mit der schickesten Barbie und dem schnellsten Sportwagen spielen, bestimmen, wo es lang geht.

Kurze schleichende Schritte sind zu hören. Tapp-tapp-tapp. Immer wieder, in unregelmäßigen Abständen. Ellen Spiecker schaut auf, sieht ein Kind hinter einer Ecke verschwinden. Die Leiterin ist erstaunt. Eben noch lagen Familienmagazine im Flur aus – für die Eltern. Doch jetzt ist der Zeitschriftenständer nur noch ein nacktes Drahtgestell. Inzwischen sind alle Trolle, Drachen und Prinzessinnen mit Papierrollen ausgestattet. Ach was, Papierrollen – Flüstertüten, Fernrohre, Zauberstäbe und Handys sind als neu entdeckte Spielzeuge hinzugekommen. Mit den Flüstertüten experimentieren die Drachen mit ihrem Drachengebrüll. Nicht ganz so laut und sehr laut. Tiefes Brüllen, hohes Kreischen. Kurzes Brüllen und langes Brüllen. Verschiedene Tierstimmen sind zu hören. Manche Kinder halten sich die Ohren zu. Die Erzieherin auch.

Am Anfang ist es den Kolleginnen von Ellen Spiecker nicht ganz leicht gefallen, eine neue Rolle in dem Projekt zu finden. Im Konzept des spielzeugfreien Kindergartens ist vorgesehen, dass ErzieherInnen nur in Notfällen eingreifen. Ansonsten sind die Kinder ihren eigenen Impulsen überlassen. PISA-geschockte PädagogInnen sind seit einiger Zeit eher gewohnt, schon im Kindergartenbereich schulähnliche Strukturen zu etablieren. Die Idee des spielzeugfreien Kindergartens aber geht in die entgegengesetzte Richtung: Nur so viele Vorgaben von Erwachsenen wie nötig, so viel Kreativität von den Kindern wie möglich. Allerdings sind die Angestellten der Einrichtung dadurch nicht beschäftigungslos. Die ErzieherInnen dokumentieren das, was im Kindergarten geschieht, nun nicht mehr nur für den Träger, das Jugendamt, die zukünftige Schule und die Eltern. Sie verfassen auch „Lerngeschichten“ für die Kinder. Dabei müssen sie kindgerecht formulieren. Diese Geschichten werden in ruhigen Zeiten den Kindern vorgelesen. So auch die Geschichte, wie der kleine Troll es schaffte, über den reißenden Bach zu klettern. Der Junge hört gespannt zu, schaut wie gebannt auf die Schrift seiner Erzieherin. Dann heftet er voller Stolz das Blatt in seinen Ordner.

Es ist 12.30 Uhr. Viele Kinder werden abgeholt. Manche wollen noch nicht nach Hause. Vom Herumtoben gerötete Gesichter bestätigen die Aussage von Ellen Spiecker, dass man seit Beginn des Projektes die Heizung herunter drehen musste. Die Eltern sind begeistert. Seit dieser Woche könne ihre Sarah abends problemlos einschlafen, sagt eine Mutter. So müde mache der Kindergarten ohne Spielzeug. Eine Großmutter erzählt, dass ihr Schwiegersohn seit einem halben Jahr arbeitslos sei. Zu Weihnachten habe er sein Konto überzogen, um den Kindern genau so zu beschenken wie vorher. „Vielleicht bemerkt er ja jetzt, dass Spielzeug nicht so wichtig ist.“