Das dreckige halbe Dutzend

Hans-Jürgen Döscher verkennt in seinem neuen Buch über das Außenministerium der frühen Bundesrepublik leider völlig die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit dieser Zeit

Kanzler Adenauer signalisierte allen kleinen Nazis: Euch ist vergeben

VON HANS ARNOLD

Nach dem Krieg bildeten zahlreiche Diplomaten das Rückgrat des neuen Auswärtigen Amtes (AA) , die schon zu NS-Zeiten aktiv waren. Bisher hat Hans-Jürgen Döscher drei Bücher über diese Zeit und die „Diplomatie im Schatten der ‚Endlösung‘“ publiziert. Sein neues Werk fasst nun diese Bücher zusammen. Anlass ist eine etwas bizarre Kontroverse, die 2005 zwischen dem damaligen Außenminister Joschka Fischer und pensionierten Diplomaten tobte. Der Minister hatte nämlich im April die Praxis „ehrender Nachrufe“ in der Mitarbeiterzeitschrift internAA gestoppt, wenn die Verstorbenen Mitglied der NSDAP gewesen waren.

Döschers Buch geht einerseits von der Artikelserie „Ihr naht euch wieder …“ aus, die 1951 den personellen Aufbau des neuen AA in der Frankfurter Rundschau erörterte. Andererseits von der Arbeit des Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, der 1952 aufgrund der Zeitungsartikel eingesetzt worden war. Dessen ausführliche Dokumentierung ergänzt der Autor um detaillierte Lebensläufe fast aller aus dem alten in das neue AA übernommenen Diplomaten und ihrer Beziehungen zum Nationalsozialismus. Er zeigt: Trotz der damals üblichen Entnazifizierungen und trotz der Arbeit des Bundestagsausschusses waren zwei Drittel der Diplomaten des neuen AA durch Mitgliedschaften in Nazi-Organisationen und zum Teil auch darüber hinaus politisch belastet.

Leider haben Döschers akribische Untersuchungen jedoch einige Schwachpunkte, da er das Thema zu stark eingrenzt. So konzentriert er sich vor allem auf die Jahre 1951/52 – und verliert dabei völlig aus dem Blick, dass der neue Auswärtige Dienst in der Zeit danach sehr schnell auf über 1.000 Angehörige des höheren, also des diplomatischen Dienstes anwuchs. Auf diese Weise nahm natürlich der Anteil von Altbeamten am gesamten Dienst kontinuierlich ab. Ähnlich relativieren sich bei näherer Betrachtung auch oft die Belastungen deutscher Diplomaten aus der Nazizeit, die der Autor als besonders gravierend herausstellt. Gewiss, man hätte beim Aufbau des neuen AA auf manche Diplomaten aus dem alten Amt ebenso verzichten sollen wie auf manch andere Bewerber, etwa den ehemaligen Nazi-Oberstaatsanwalt Franz Nüßlein. Letztlich findet sich unter Döschers Fällen aber allenfalls ein halbes Dutzend klarer Fehlentscheidungen.

Besonders bedauerlich an Döschers Buch ist, dass der Autor den historischen Kontext in der Nazizeit ebenso vernachlässigt wie in der Aufbauzeit des neuen AA. Gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtig breiten Behandlung der Gründerzeit der Bundesrepublik in den deutschen Medien nimmt sich daher sein Buch doch etwas antiquiert aus.

Nehmen wir das Beispiel „Nürnberger Prozesse“ (1945/46). Die USA betrachteten Nürnberg nicht nur als Beginn, sondern gleichzeitig auch als Abschluss der Entnazifizierung. Denn bekanntlich war für sie im beginnenden Kalten Krieg eine deutsche Armee das wichtigere Ziel. Dafür bedurfte es eines westdeutschen Staates, dessen Bürger mit sich und ihrer Vergangenheit im Reinen waren – und nichts sehnlicher wünschten sich auch die Deutschen damals.

Geprägt von diesem Zeitgeist berief etwa der erste Bundeskanzler Adenauer den Kommentator der Nürnberger Rassengesetze von 1935, Hans Globke, zu seinem wichtigsten Mitarbeiter. Womit er allen kleinen Nazis und „Mitläufern“ signalisierte: Euch ist vergeben. Und für den personellen Aufbau seiner eigenen Bundesverwaltung, einschließlich des AA, stellte er nüchtern fest: „Wenn ich kein sauberes Wasser habe, kann ich das schmutzige nicht wegschütten.“

Döscher zielt mit seiner Untersuchung und insbesondere mit seinen Bewertungen leider erheblich an der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der Jahre 1945 bis 1955 vorbei. In ihr war auch der Aufbau des neuen Auswärtigen Amtes weder schlechter noch besser als der nach dem Willen der Alliierten und dem mehrheitlichen Willen der Bürger durchgeführte Aufbau der Bundesrepublik selbst.

Freilich ist dennoch richtig: Bisher fehlt eine breiter und tiefer angelegte historische Aufarbeitung der Geschichte des Auswärtigen Amtes in der Nazizeit und auch danach, da deren Erarbeitung bisher durch das Auswärtige Amt hintertrieben worden war. Es ist daher ein positives Ergebnis der kleinen AA-Kontroverse im letzten Jahr, dass Fischer eine Historikerkommission eingesetzt hat, die nun endlich diese Aufgabe in Angriff nehmen wird. Ihre renommierten Mitglieder, Eckart Conze, Norbert Frei, Klaus Hildebrand, Henry. A. Turner, Mosche Zimmermann, stimmen einen jedenfalls hoffnungsfroh.

Hans-Jürgen Döscher: „Seilschaften. Die verdrängte Vergangenheit des Auswärtigen Amts“. Propyläen Verlag, Berlin 2005, 384 Seiten, 22 EuroDer Autor war 1951 einer der ersten neuen Diplomaten im AA und später Büroleiter von Bundesaußenminister Willy Brandt