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Archiv-Artikel

Abenteuerurlaub Taliban-Style

AFGHANISTAN In Linus Reichlins neuem Roman „Das Leuchten in der Ferne“ werden Männerträume zu Literatur

Warum macht er das doppelte Spiel mit? Aus Abenteuerlust? Aus erotischer Faszination?

Das ist wohl so eine Wunschfantasie, wie sie jeder und jede nachvollziehen kann: Beim Warten im Bürgerbüro eines Berliner Bezirksamtes die Frau/den Mann seiner oder ihrer Träume zu treffen. Natürlich passiert das in der Realität äußerst selten.

Aber dafür gibt es ja Romane, zum Beispiel diesen hier. Darin sitzt zu Beginn ein etwas in die Jahre gekommener, etwas in die Breite gegangener und gar nicht mehr so gefragter Kriegsreporter im Bürgeramt, um pflichtgemäß seinen Umzug zu melden, und verschenkt seine günstigere Wartenummer an eine Frau, die ihm ihrer anmutigen Bewegungen wegen aufgefallen ist, damit sie mit ihrem quengelnden Kind nicht so lange warten muss. Zum Dank erfolgt spontan eine Einladung zum selbstgekochten Essen. Eine nette kleine Männerfantasie – die erste von vielen in diesem Abenteuerbuch für große Jungs.

Die Welt in der Romanexposition allerdings ist eine aus der Realität bekannte. Ämter, dunkle Wohnungen, deutsche Großstadt im Winter. Zu viel Alkohol, zu viel Essen, nicht geglückte Beziehungen. In dieser Welt ist er gefangen, der Held – wie wir ihn wohl nennen sollten – dieser Geschichte: der gerade beschäftigungslose Kriegsreporter Moritz Martens, der sich seine teure Wohnung nicht mehr hat leisten können und nach Neukölln umziehen musste. Martens, wie er nur genannt wird, ist ein Mann um die fünfzig, der über einen altersgemäßen Gourmetbauch verfügt, diesen jedoch, wie uns mitgeteilt wird, durch markante Gesichtszüge und sehr blaue Augen wieder ausgleicht.

Anmutig Spaghetti kochen

Miriam dagegen, die Frau mit den anmutigen Bewegungen, die Spaghetti für ihn kochen wird, ist eine attraktive Halbafghanin, die ihn hineinziehen wird in eine Geschichte, wie sie abenteuerlicher kaum sein kann. In einer Taliban-Einheit in Afghanistan, so erzählt Miriam, lebe eine sogenannte Bacha Posh, ein Mädchen, das als Junge aufgezogen wurde und aus ihrer Familie floh, als sie verheiratet werden sollte. Nun wolle sie, die als Mann unter Männern lebe, fliehen, da ihr Leben in Gefahr sei, wenn die Taliban ihre wahre Identität entdeckten. Dafür brauche sie Geld und wolle also ihre Geschichte verkaufen.

Martens, sofort angefixt, macht bei einem befreundeten Chefredakteur die nötigen finanziellen Mittel locker, samt Honorar für sich selbst und für Miriam als Fotografin. Dann geht es ab nach Afghanistan. Martens erkennt zwar früh, dass Miriam ein gefährliches doppeltes Spiel spielt, macht jedoch mit – aus Abenteuerlust, aus erotischer Faszination?

Schwer zu sagen. Dieser Roman scheint in mehrere Richtungen unterwegs zu sein, möglicherweise ist er sogar mehrere Romane auf einmal, mindestens aber zwei. Davon einer, der von dem Wunschtraum handelt, aus einem unbefriedigenden Dasein einfach ausbrechen zu können. Doch aus dieser Abenteuer- und Liebesgeschichte heraus erwächst, als ziemlich starker Seitentrieb, der den Haupttrieb schnell verdrängen wird, ein weiterer Roman, dem der wahrscheinlich stärkere Wunschtraum zugrunde liegt, ein echter Kerl zu sein.

Das aber geht womöglich nur in der ausschließlichen Gesellschaft von anderen Männern. So stellt man beim Lesen irgendwann fest, dass die Traumfrau gar nicht mehr dabei ist. Sie ist dramaturgisch unauffällig wegorganisiert worden, ohne dass ihr Verschwinden thematisiert worden wäre. Der Held bleibt als Geisel einer terroristischen Guerillagruppe allein zurück. Er hungert, friert, schläft auf dem nackten Boden und muss sich wiederholt der sexuellen Annäherungen eines Talib erwehren.

Man kann Reichlin sicher nicht vorwerfen, er habe nicht gründlich recherchiert. Auf jeden Fall hat er das; und er schreibt spannend und farbig. Gerade bei den Nebenfiguren, etwa bei den Mitgliedern der Talibangruppe, gelingt es ihm sehr gut, mit wenigen Strichen lebendige Personen zu zeichnen.

Das eigentlich Interessante an dieser Talibangeschichte aber wäre eigentlich das Stockholm-Syndrom gewesen, das der gefangene Martens ganz offensichtlich entwickelt. Er ist es ja, durch dessen Augen wir auf seine Bewacher sehen, er ist es, mit dessen Bewusstsein wir ihre individuellen Eigenarten wahrnehmen und zum Teil sogar schätzen lernen. Sogar der als eiskalter Killer bekannte Anführer der Gruppe entpuppt sich letztlich als anständiger Kerl, der im Geheimen seine schützende Hand über die Bacha Posh in der Gruppe hält.

Natürlich ist es erlaubt, extremistische Guerillakämpfer als Menschen zu zeigen. Doch kommt hier zu viel Räuberromantik ins Spiel, zumal ziemlich unklar bleibt, warum die Truppe so scheinbar ziellos durchs Gebirge zieht und wohin.

In puncto psychologischer Glaubwürdigkeit schwächelt die Erzählung auf langer Strecke gehörig und degradiert ihre Protagonisten zu Statisten in einem touristisch ambitionierten Abenteuerspiel, dessen Ziel es ist, exklusiv das ganze Afghanistan – wie Sie es sonst nie erleben! – vorzuführen. Das zweite Ziel, die Kerlwerdung Martens’, ist am Ende immerhin insofern deutlich sichtbar geworden, als er sich, zurück in der grauen Großstadt, neue Hosen kaufen muss: „Die Verkäuferin taxierte ihn und sagte, ich würde Ihnen zu einer Slim Fit raten, Sie sind ja schlank.“ Was will man mehr von einem gelungenen Urlaub.

KATHARINA GRANZIN

Linus Reichlin: „Das Leuchten in der Ferne“. Galiani Berlin, Berlin 2013, 304 Seiten, 19,99 Euro