: Zu viel Politik im Recht
In den USA wird die Wahl eines neuen Richters für das Oberste Gericht öffentlich diskutiert. Hier dagegen mauscheln das CDU und SPD aus, eine breite Debatte fehlt
Deutschland hat sich erstaunlich intensiv befasst mit der Berufung Samuel A. Alitos in den Supreme Court. Aufmerksamkeit ist angebracht, denn US-Präsident George W. Bush – auf allen Ebenen angeschlagen, aber noch lange keine „lahme Ente“ – möchte sich einen Traum erfüllen: nach der konservativen Mehrheit in Exekutive und Legislative nun auch die in der Judikative.
Rechtsgerichteten Politikern sind liberale Richter, speziell seit der legendären Abtreibungsentscheidung von 1973, ein Dorn im Auge. Es wäre daher ein großer Erfolg für Bush jr., wenn sich durch Alito die Revision dieser Entscheidung erreichen ließe und weiterhin ein konservatives „Durchentscheiden“ in allen Fragen des Lebensschutzes, der inneren und äußeren Sicherheit wie der Rechte der Einzelstaaten. Mit dieser Perspektive wäre womöglich Bushs ins Grübeln geratene sozialkonservative Basis wieder zu gewinnen. Immerhin sind im Herbst die Zwischenwahlen für den Kongress, bei denen die zunehmend vertracktere Lage im Nahen Osten und die weiterhin schwierige Wirtschaftslage Bushs Republikaner in Bedrängnis bringen könnten.
Samuel Alito hat stets konservative Grundüberzeugungen an den Tag gelegt und klar gemacht, dass er das ungeborene Leben für nicht ausreichend geschützt hält. Bedenklicher an seiner durch den Senat bestätigten Berufung ist jedoch, dass er die Machtfülle des Präsidenten stärken möchte. Alito hat sich bei den Senatsanhörungen als Anhänger einer randständigen „unitary executive“-Theorie zu erkennen gegeben, die dem Weißen Haus die gesamte Exekutivgewalt einräumt; das nährt Befürchtungen, die zweite Amtsperiode von George W. Bush könnte der „imperialen Präsidentschaft“ noch näher kommen. Solche Befürchtungen verweisen Amerika-Experten gerne ins Reich der Fabel, aber jetzt, in Zeiten des Krieges, gerät auch in diesem neuralgischen Punkt des Verhältnisses von Recht und Politik die älteste Demokratie der Welt in die Fahrwasser der Illiberalität.
Mit einer prononciert konservativen 5:4-Majorität kann der Supreme Court jedenfalls seine alte Vorbildrolle nicht mehr reklamieren. Eine Richterin am kanadischen Verfassungsgericht, das (anders als das deutsche) dafür bekannt ist, auswärtige Gerichtsbarkeiten aufzugreifen, ließ kürzlich vernehmen, Urteile aus Washington zitiere man schon lange nicht mehr, zu viele randständige und offensichtlich politisierte Rechtstheorien seien in den USA auf dem Vormarsch. Damit sei nicht gesagt, Richter passten sich immer den Wünschen der Mehrheit (gleich welcher Couleur) an, die sie einmal aufs Schild gehoben hat. Auch konservative Richter im Supreme Court waren für Überraschungen gut, und in letzter Zeit haben sie dem Präsidenten keineswegs alle Verstöße des Weißen Hauses gegen nationales und Völkerrecht durchgehen lassen. Schwach war vielmehr der Kongress, was die prekäre Balance zwischen Recht und Politik, zwischen Pragmatismus und Prinzipientreue ebenfalls stört.
Besorgnisse zur Aufhebung der Gewaltenteilung betreffen keineswegs allein die USA, und Richterposten sind auch hier zu Lande zu besetzen. Aktuell geht es – unter weitgehender Abwesenheit öffentlichen Interesses – um die Nachfolge des liberalen Verfassungsrichters Dieter Hömig, der 1995 auf FDP-Ticket in den Ersten Senat nach Karlsruhe gelangt war und Ende März in den Ruhestand treten wird. Da Bundesrat und Bundestag neue Verfassungsrichter mit Zweidrittelmehrheit wählen, kommen Liberale und Grüne oder ihnen Nahestehende nur in den Genuss eines obersten Richteramtes, wenn die großen Parteien ihnen einen Posten abtreten. Von diesem ungeschriebenen Gesetz wollen Union und Sozialdemokraten offenbar nichts mehr wissen – und die Kleinen in der Opposition leer ausgehen lassen. Die Folge: Im Ersten Senat wären rot-schwarze Selbstblockaden möglich, wenn die latent linksliberale Mehrheit ausliefe und es häufiger zu 4:4 Abstimmungen käme – womit Klagen und Beschwerden abgewiesen sind.
Ist zu viel Politik im Recht? Zu leugnen, dass Richter politische Präferenzen und Vorurteile haben, wäre naiv; leider geschieht es in der Wahrnehmung des Karlsruher Rechts zu häufig, die glorreichen sechzehn stehen im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen auf einem hohen Sockel der Reputation und Popularität. Nicht von ungefähr hat man in den 1970er-Jahren die konservative Tendenz des Bundesverfassungsgerichts gerügt und mit Recht die Stirn gerunzelt, wenn sich Karlsruhe der Legislative als Supergesetzgeber und der übrigen Gerichtsbarkeit als Superrevisionsinstanz übergestülpt hat.
Recht und Politik stehen nicht in einem Verhältnis der Art, dass sich die bewegliche, opportunistische Politik um den stabilen und prinzipientreuen Pol des vermeintlich unpolitischen Rechts dreht. Beide sind vielmehr im Fluss gesellschaftlichen Wandels, wobei Jurisprudenz und Verfassungsgericht gut daran tun, sich etwas langsamer zu bewegen und „political activism“, die Versuchung politischer Gestaltungsvorgaben, zu vermeiden.
Unterm Strich hat Karlsruhe in den fünfzig Jahren seiner Existenz eine positive Rolle gespielt, es gibt keinen Grund, diese neu zu definieren. Die jüngste Entscheidung zur Vertrauensfrage Schröders hat dem Bundeskanzler einen erstaunlich großen Spielraum gelassen, eine Entwicklung, die Verfassungsrechtler in anderer Hinsicht kritisiert haben: Beispielsweise prangerte der ehemalige Karlsruher Dieter Grimm den „paktierenden Staat“ an, der – siehe Gerhard Schröders Konsensgespräche – extrakonstitutionelle und außergesetzliche Entscheidungsprozesse begünstigt, die den Bundestag umgehen und einem Hüter der Verfassung keinen Ansatz außer pauschaler Schelte bieten.
Das brillante Minderheitenvotum der Verfassungsrichterin Lübbe-Wolf zur Frage, ob das Bundesverfassungsgericht überhaupt zuständig sei für die Bewertung der Vertrauensfrage, war ein deutlicher Fingerzeig für die Einführung eines Selbstauflösungsrechts des Bundestages, das aber wohl erneut auf die lange Bank geschoben wird.
In Deutschland haben wir trotz Kanzlerdemokratie keine „unitäre Exekutive“, aber auch ein schwachbrüstiges Parlament. Wenn Parlamentarier von Union und SPD am informellen Konsensmechanismus bei der Richterwahl deuteln und Parteipräferenzen gegen eine zahlenmäßig schwache Opposition durchzudrücken versuchen, setzt das die Reputation des Karlsruher Gerichts aufs Spiel und schwächt das Palliativ gegen eine überpolitisierte Verfassungsgerichtsbarkeit, das Karlsruhe wie ein genetischer Code eingegeben wurde.
Besonders ungeschickt verhalten sich die Sozialdemokraten, wenn sie der FDP, der bis dato agilsten Oppositionspartei, einen Richterposten vorenthalten wollen, damit sie morgen nicht dasselbe für eine grüne Kandidatin tun müssen. Eine liberale Ausrichtung des Bundesverfassungsgerichts fördert Anliegen der sozialen Demokratie, kurzfristiges Proporzdenken schadet ihnen. CLAUS LEGGEWIE