: Die Lieblinge der Götter
NACHLESE In der Antike war allein der olympische Sieger ein von höherer Macht gesegneter Held, die anderen ausnahmslos Loser. Die heutigen Spiele sind fast schon wieder so weit
VON GERHARD FITZTHUM
In den Sendungen aus Vancouver war von der „olympischen Idee“ kaum noch die Rede. Umso deutlicher wurden die dramaturgischen Grundprinzipien des Sportfestes: Am Ende jedes Wettbewerbs gibt es einen Gold-, einen Silber- und einen Bronzemedaillengewinner und ansonsten nur „Geschlagene“.
Schon der vierte Platz – eine großartige Leistung angesichts der Tatsache, dass man meist nur wenige Hundertstel zurückliegt und die davor Platzierten einfach nur weniger Wind, mehr Sicht oder besseres Material hatten, zählt nicht mehr und ist bestenfalls „undankbar“, im Regelfall aber die Tragödie schlechthin. Wer ihn innehat, hat im entscheidenden Moment versagt und kann sich der aufrichtigen Anteilnahme aller Sportreporter sicher sein: Sie werden ihn im Wiederholungsfalle mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Feinfühligkeit auf das Podest des „Verlierers der Spiele“ heben und ihn mit dem einen oder anderen Interview in das Rampenlicht stellen, aus dem er eben noch herausgefahren ist.
Es sei nun mal leider so, dass nur die ersten drei Plätze zählen, hört man die Kommentatoren von ARD und ZDF tagtäglich bedauern, ganz so, als ob es ein Olympia jenseits seiner medialen Aufbereitung gäbe und sie selbst schuldlose Opfer von Vorgaben seien, denen sie nur widerwillig Folge leisteten. Dabei sind gerade sie es, die jeden Sportler des deutschen Teams, der einmal ein Weltcuprennen gewonnen hat, sofort zu „unserer Goldhoffnung“ erklären, ihn also vor die Wahl stellen, entweder diese Erwartung zu erfüllen oder sich und sein Land zu blamieren. Slalomspezialist Felix Neureuther brachte es unlängst auf den Begriff: „In Deutschland bist du entweder der Held oder der Depp.“
Hat ein Sportler im Vorfeld der Spiele gar mehrere „Topresultate“ eingefahren und damit gute Gründe für höchste Erwartungen geliefert, so mutiert selbst eine Silbermedaille zum Dokument des Scheiterns. „Silber gewonnen, aber Gold verloren“, lautet ein Satz, den ausdauernde Olympiazuschauer wiederholt zu hören bekamen.
Die erreichte Platzierung wird einfach mit der in den Sportler gesetzten Erwartung gegengerechnet: „Alle Hoffnungen lagen auf ihm, und jetzt gerade mal Bronze“, heißt es dann im O-Ton. Enttäuschte Hoffnungen, unbändige Freude – ist das nicht das Programm der Casting Shows, vor denen sich allabendlich ein Millionenpublikum versammelt? Nur ist es in diesem Fall nicht so, dass sich die öffentlich-rechtlichen Sender die Geschmacklosigkeiten bei den bösen Privaten abgeschaut hätten, sondern eher umgekehrt: Die genüssliche Demontage des olympischen Nichtsiegers funktionierte bei ARD und ZDF schon lange, bevor Entertainer wie Dieter Bohlen die Chance bekamen, ihren Sadismus zur besten Sendezeiten auszuleben.
Doch woran liegt das? Zum einen spiegeln die Journalisten nur den spezifischen Scheuklappenblick der Athleten, die gar nicht zu trainieren anfingen, wenn sie nicht hoffen könnten, irgendwann mal als Sieger nach Hause zu fahren.
Strafe für den Boten
Und zum anderen sind die Spiele ein Riesengeschäft für die Fernsehanstalten, was den Reporter unter Erfolgsdruck stellt. Siegt nicht wenigstens ab und zu mal ein Sportler der eigenen Nation, sinkt der Marktwert der fraglichen Disziplin, womit auch der berufliche Aufstieg in Gefahr gerät. Der alte Topos, dass der Überbringer der schlechten Botschaft bestraft wird, gilt auch und gerade bei Olympia: Erfolg und Nichterfolg färben auf die ab, die ihn verkünden und begleiten.
Und die nächste Olympiade hat bereits begonnen. Die alten Griechen meinten mit diesem Begriff nicht die Spiele selbst, sondern den vierjährigen Zyklus von kultischen Festen, an dessen Ende der sportliche Showdown stand. Dieser kannte pro Disziplin nur genau einen Sieger – jenen Heroen, der sich fortan als Liebling der Götter betrachten durfte. Jede Niederlage, selbst der zweite Platz, galt dagegen als Schmach. Um dem Spott zu entgehen, der sie im ganzen Land erwartete, pflegten die Geschlagenen auf Schleichwegen in ihre Heimat zurückzukehren. Blickt man auf die Spiele des 21. Jahrhunderts, so sind die Loser der Antike fast zu beneiden. Denn heute sind an den Fluchtwegen überall Kameras aufgebaut.