piwik no script img

Archiv-Artikel

Belutschistan am Rande des Bürgerkriegs

In der pakistanischen Provinz Belutschistan wird der Konflikt um die Verteilung der Einnahmen aus denÖl- und Gasvorkommen immer gewalttätiger und könnte sich bald zu einer nationalen Krise entwickeln

QUETTA/ISLAMABAD taz ■ Bombenanschläge, Städte unter Dauerbeschuss und Vergeltungsmaßnahmen Aufständischer gegenüber der Zentralregierung ziehen Pakistans Unruheprovinz Belutschistan immer mehr in den Abgrund. Zuletzt wurden am Mittwoch drei chinesische Ingenieure erschossen. Die Bilanz der Wochenzeitung The Friday Times für 2005: 187 Bombenanschläge, 257 Raketenangriffe, acht Anschläge auf Gasleitungen, 38 Angriffe auf Elektrizitätswerke und 19 Anschläge auf Bahnstrecken.

Nachdem Belutschistan 1949 Pakistan beitrat, war die Zentralregierung wenig an der Grenzprovinz zu Afghanistan und Iran interessiert. Familienclans der Belutschen und Paschtunen bewohnten eine unzugängliche Wüste. Die britische Kolonialmacht hatte ihr genehme Stammesfürsten, die Sardars, als ihre Ansprechpartner ernannt. Von der pakistanischen Regierung wurde dies übernommen.

Die Situation änderte sich in den 1950er-Jahren, als Öl- und Gasvorkommen gefunden wurden und geologische Studien Belutschistan zur reichsten Provinz machten. Einzelne Sardars und die Zentralregierung profitieren, jedoch blieb die Provinz arm. „Das Volk der Belutschen wird erst zufrieden sein, wenn die Plünderung der Ressourcen und die Feindseligkeiten und Dominanz von außen beendet sind“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung des Oppositionsführers im belutschischen Provinzparlament, Kachkol Ali, und des Vorsitzenden der Nationalpartei Belutschistans, Hayee Baloch.

Für die Belutschen wie deren einflussreichsten Clanführer Nawab Akbar Bugti geht es um Besitzstandswahrung und die direkte Verteilung der Ressourcen an die Stammesfürsten. 2,36 Millionen Euro müssen die Gasfirmen jährlich allein an Bugti zahlen. Die von der Zentralregierung favorisierte Umverteilung in Entwicklungsprojekte ohne Beteiligung der Stammesfürsten stößt auf deren Widerstand.

Für Islamabad geht es um die Ausbeutung der Ressourcen sowie die Umsetzung eines ambitionierten Programms lokaler Verwaltung. Unter dem Mantel lokaler Teildemokratisierung versucht die Militärregierung in Islamabad die Macht der Stammesfürsten zu brechen. Unter dem Stichwort „Entwicklung“ werden strategische Großprojekte wie Autobahnen, Flughäfen und ein großer Hafen gebaut.

Die Armut in der Bevölkerung linderte das bisher nicht. Im Bericht der unabhängigen Menschenrechtskommission Pakistans heißt es: „Armut wuchert in Belutschistan. 20 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu Trinkwasser, während der Landesdurchschnitt bei 86 Prozent liegt. Die Elektrifizierung der Dörfer beträgt nur 25 Prozent im Vergleich zu landesweit 75 Prozent. Die Kindersterblichkeit ist höher und die Bildungsrate niedriger als in anderen Provinzen.“

Seit fünf Jahren wird der Streit um Macht und Ressourcen wieder militärisch geführt. Die Befreiungsarmee Belutschistans, die belutschische Befreiungsfront und Gruppen von Stammeskriegern und Unterclans stehen etwa 150.000 Mann von Grenzpolizei, Antiterroreinheiten und Armee gegenüber.

Terrorgruppen haben in dieser Woche zwei der drei größten Gasfelder und -pumpen beschosssen und die Produktion gestoppt. Momentan ist die Provinzhauptstadt Quetta wegen gesprengter Bahnabschnitte und verminter Straßen auf dem Landweg von der Außenwelt abgeschnitten.

Zu Monatsbeginn diskutierte Premierminister Shaukat Aziz mit seinem Kollegen aus Belutschistan, Jam Mohammad Yousuf, die Lage. Sie streben weiter eine Befriedung mittels der von Islamabad beschlossenen Entwicklungsprogramme gegen den Willen der Stammesfürsten an. „Die gegen Entwicklung gerichteten Elemente versuchen, ihre egoistischen Interessen durch Unruhe in der Provinz und auf Kosten der nationalen Interessen durchzusetzen. Solidarität und Sicherheit ist das heiligste Gut, und wir sind entschlossen, es unter allen Umständen zu schützen“, sagte Aziz.

So könnte aus dem lokalen Konflikt eine nationale Krise werden. Dann hätte das bereits wegen des Kaschmirkonflikts, den al-Qaida- und Talibankämpfern in den Stammesgebieten und durch die islamistische Opposition in Bedrängnis geratene Militärregime den ersten hausgemachten Konflikt, der zur Desintegration des Landes führen könnte. Schon gibt es Vergleiche mit den frühen 1970er-Jahre, als es zur Abspaltung Ostpakistans (heute Bangladesch) kam.

Präsident General Pervez Musharraf, der im Januar in Belutschistan selbst unter Raketenbeschuss geriet, bestreitet, dass es dort eine Militäraktion gibt. Seine Regierung braucht eine befriedete Provinz, weil über sie ein Großteil der geplanten 1.800 Kilometer langen Gasleitung zwischen Iran und Indien gehen soll. NILS ROSEMANN