: Die Faszination des Anderen
RELIGION Wie eine Freundschaft in Beirut rassistische und andere Vorurteile zwischen Arabern und Iranern einfach hinter sich ließ. Ein Protokoll
VON PANIZ MUSAWI
Das erste Mal traf ich Fatima* in einem Café am Sassine Square in Beirut. Es war Dezember, die Veranda des Cafés war mit einer Plastikplane verhängt, Heizstrahler waren aufgestellt. Keine Musik, kein Lärm; eifrig arbeitende Studierende, über Stapel von Büchern und Notizen gebeugt, beherrschten den Raum.
Es ist nicht ungewöhnlich in Beirut, dass Studierende wegen des Mangels an öffentlichen Bibliotheken die Cafés einnehmen und den Raum zu ihren Zwecken umfunktionieren. Hier sollte mein erstes Treffen mit Mitgliedern einer NGO stattfinden. An dem Tisch saßen Frauen, die in dieser Formation in der libanesischen Realpolitik nie an einem Tisch friedlich diskutieren würden. Einige sehen sich primär als christlich, andere als säkular und armenisch. Und dann war da noch Fatima.
Zigaretten und Kaffee
Fatima kam zu spät. Wir saßen bereits seit einer halben Stunde zusammen und hatten uns bei Zigaretten und Kaffee einander vorgestellt. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, das weit über ihre Stirn ragte, und hatte über ihren dunkelgrauen Mantel eine rote Daunenweste angezogen. Mit ihrem Motorradhelm in der Hand setzte sie sich neben mich. Nach dem Treffen streckte sie mir die Hand entgegen: „Du bist also die Iranerin aus Deutschland?“ So fing es an. Fatima und ich, wir begannen über die Schia zu reden. Die Schia ist nach der sunnitischen Gemeinde die weltweit zweitgrößte muslimische Glaubensgemeinschaft. Während die politisierte Schia von der modernen Geschichte des Iran nicht zu trennen ist, hat sie sich in Libanon politisch erst im Anschluss an die islamische Revolution 1979 im Iran etabliert.
Wir waren gegenseitig voneinander fasziniert. Ich beschrieb iranischen Rassismus gegenüber AraberInnen. Sie erzählte von rassistischen arabischen Witzen über IranerInnen. Was uns beide erstaunte: Die rassistischen Äußerungen kamen aus den Mündern schiitisch geprägter Menschen. Rassismus kennt keine Grenzen, nicht einmal religiöse. Sie konnte nicht fassen, dass meine „iranischen Eltern“ mir die Reise in ein arabisches Land nicht verboten hatten angesichts all des Hasses und der Vorurteile auf beiden Seiten. Ich sagte ihr, dass die Erfahrungen meiner Eltern nicht die meinen sind. Fatima erzählte von ihrer Familie, die der Hisbollah nahestehe. Ich hatte noch nie mit Hisbollah-Anhängern zu tun – nur einmal hatte mir eine in Schiras am Grabe des persischen Dichters Saadi auf den Kopf gehauen und gesagt, ich solle mein Kopftuch vorziehen.
Ich hatte im Iran noch nie eine verschleierte Frau gesehen, die allein mit dem Motorrad gefahren ist; Fatima zeigte mir, wie es aussieht. Sie erzählte mir, dass ihr das auch bereits Probleme bereite in Dahiya, dem schiitisch geprägten Süden Beiruts, wo ihre Familie wohnt. Aber dort halte sie sich nur noch selten auf. Ich bewunderte ihre Reiskochkünste, und sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich erzählte, dass ich Reis nur mit dem Reiskocher nicht verbrennen würde. Sie fand mich interessant, weil ich eine „Seyedeh“ bin, also von der Familie Alis, dem ersten Schiiten, abstamme und auch noch eine Musawi.
Mein Nachname ist von „Musa“ hergeleitet, dem arabischen Namen für Moses. Aber das ist auch schon alles Schiitische, was an mir hängen geblieben ist. Konnten wir gegensätzlicher sozialisiert worden sein: ein gottferner Minutenschweinesteak-Fan und eine kritische Schiitin, die neidisch ist auf Imam Alis Haarpracht?
Fatima holte mich nach der Unit mit dem Motorrad ab: Wir fuhren auf den Beiruter Highways und lachten, sprachen ernsthaft, tauschten freche Blicke aus, wurden angestarrt, ignorierten die Blicke der anderen.
Sie fuhr mich nach Dahiya. Sie zeigte mir die Al-Hassanain-Moschee Fadlallahs, und ich entdeckte die von dem Geistlichen 2004 eröffnete Bibliothek. Sie zeigte mir die neuen Apartmentkomplexe in Dahiya, die nach dem israelischen Beschuss Beiruts 2006 mit iranischen Geldern wiederaufgebaut wurden.
Ich erklärte ihr, dass die blau-gelben Almosenboxen am Straßenrand auch aus dem Iran seien. Eines Tages kam sie zu einer Buchvorstellung, die ich organisiert hatte. Ich erkannte sie kaum wieder. Sie war entschleiert und trug einen weiten Pullover. Ich mochte ihre Kurzhaarfrisur, sah, dass sie feine, weiße Haare hatte.
Ich fand, dass ihr neuer Look sie noch attraktiver machte. „Ich erkläre es dir bei einem Kaffee“, sagte sie ungeduldig und verabschiedete sich. Sie identifizierte sich als Frau, aber auch wieder nicht. Sie tat, was sie für notwendig hielt. Ich bewundere sie für diesen Schritt.
Unrasierte Beine
Unsere Freundschaft begann mit der wechselseitigen Faszination des „Anderen“, der Faszination davon, wie gleich und doch unterschiedlich wir denken, fühlen und sozialisiert worden sind. Als wir unsere Vorurteile abgebaut hatten, konnten wir uns endlich als Menschen kennen- und schätzen lernen; fernab von rassistischen und anderen Vorurteilen, die religiös und säkular sozialisierte Araber und Iraner gegeneinander haben.
Warum Fatima nicht „meine Fatima“ ist, ist sekundär. Viel schöner ist der Gedanke, dass wir uns über unrasierte Beine freuen, sie mir ein wundervolles süßsaures Huhn zubereitet hat und die Blume, die ich ihr schenkte, in eine Vase auf ihrem Fernseher stellte.
*Name geändert