: Ein großes kollektives Versagen
PAKISTAN Der Bericht der Abbottabad-Kommission über den Aufenthalt des Al-Qaida-Chefs Osama bin Laden im Lande lässt kein gutes Haar an offiziellen staatlichen Institutionen
VON SASCHA ZASTIRAL
BANGKOK taz | „Kollektive Inkompetenz und Nachlässigkeit waren dafür verantwortlich, dass Osama bin Laden beinahe ein Jahrzehnt lang in Pakistan leben konnte“, heißt es in einem pakistanischen Regierungsbericht.
Den Bericht hat die Abbottabad-Kommission verfasst, die kurz nach der Kommandooperation ins Leben gerufen worden war, bei der Mitglieder einer US-Spezialeinheit im Mai 2011 den Qaida-Chef in Pakistan gestellt und getötet haben. Die vierköpfige Kommission, der ein Richter des Obersten Gerichts vorsteht, hat seitdem mehr als 200 Zeugen befragt, unter ihnen bin Ladens Frauen, den damaligen Geheimdienstchef, ranghohe Minister und zahlreiche Bürokraten und Militärs.
Der mehr als 300 Seiten umfassende Bericht, der der Regierung seit einem halben Jahr bekannt war, verschwand erst einmal in der Schublade. Dass der Bericht dennoch an die Öffentlichkeit gelangt ist, ist einem unbekannten Whistleblower zu verdanken, der ihn al-Dschasira zugespielt hat. Der Nachrichtensender aus Katar hat ihn am Montagabend veröffentlicht. Kurz darauf haben die Behörden in Pakistan den Internetzugang zu der Webseite des Nachrichtensenders gesperrt. Aus gutem Grund: Der Bericht lässt an der Regierung und am übermächtigen Militär kein gutes Haar.
So deckt der Bericht auf, dass es die Armee offenbar gar nicht gemerkt hatte, als im Mai 2011 US-Kampfhubschrauber aus Afghanistan in Pakistan eingedrungen waren. Die ersten Kampfjets seien erst 24 Minuten, nachdem die US-Kämpfer das Land mit bin Ladens Leichnam verlassen hatten, mobilisiert worden. Der Grund: Das Radarsystem sei nicht aktiviert gewesen. „Das Ausmaß an Inkompetenz war, milde formuliert, erstaunlich, wenn nicht unglaublich“, kommentieren die Verfasser des Berichts.
Besonders aufschlussreich ist das Protokoll des Interviews mit Ahmed Shuja Pasha, dem damaligen Chef des Geheimdiensts ISI. Shuja lehnt sämtlich Vorwürfe, wonach der ISI bin Laden in Pakistan versteckt haben könnte, vehement ab. Stattdessen beschwert er sich ausführlich über die Kritik, die damals am Geheimdienst geübt wurde. „In einer Zeit, in der es essentiell gewesen wäre, dass das Volk die US-Aktion geschlossen verurteilt“, sagte Pasha der Kommission, seien viele Kritiker „emotional und unausgewogen“ gewesen. Das habe es dem Westen und anderen ermöglicht, den Druck auf Pakistan durch „unbegründete Anschuldigungen“ zu erhöhen.
Es folgen landestypische, aber in dieser Form dennoch überraschende Verschwörungstheorien: Die USA wollten den ISI als Terrororganisation einstufen, erklärte Pasha laut dem Bericht weiter. Auch Journalisten in Pakistan seien in dieses Vorhaben verwickelt. Im Gegenzug würden diese „mit Geld, Frauen und Alkohol“ geschmiert. „Die amerikanische Arroganz kennt keine Grenzen“, erklärt Pasha dann. Auch über sein eigenes Land verliert der General keine schmeichelnden Worte: Pakistan sei ein „scheiternder Staat, wenn auch noch kein gescheiterter Staat“.
In dem Bericht, den al-Dschasira bekommen hat, fehlt eine Seite mit Pashas Äußerungen. Der Text auf der anschließenden Seite lässt darauf schließen, dass der Geheimdienstchef darlegt, auf welche Forderungen sich die USA und der damalige Militärherrscher Pervez Musharraf geeinigt haben, damit Pakistan die USA in Afghanistan unterstützt.
Der Bericht zeichnet auch die Aufenthaltsorte bin Ladens in Pakistan nach. Demnach sei der Qaida-Chef im Sommer 2002 nach Pakistan gekommen und habe seinen Aufenthaltsort seitdem sechsmal gewechselt. Eine Zeit lang soll sich bin Laden im Swat-Tal aufgehalten haben, das später in die Hände der Pakistanischen Taliban gefallen ist. Im August 2005 seien bin Laden und seine Familie in Abbottabad eingetroffen, wo ihn sechs Jahre später das Navy-Seals-Team in seinem Haus getötet hat.
Auf die sensible Frage, ob der Sicherheitsapparat von bin Ladens Aufenthalt in Pakistan gewusst hat, liefert der Bericht keine eindeutige Antwort. Mehrfach deuten die Verfassen jedoch an, dass einzelne Akteure des Staates involviert gewesen sein könnten. Dies könne „nicht ganz ausgeschlossen werden“, heißt es an einer Stelle des Berichts.