Inbrünstige Naturverehrung ist auch keine Lösung

SPEKULATIVE BELLETRISTIK Ein rätselhafter biologischer Super-GAU hat stattgefunden: Margaret Atwood konzipiert in ihrem Roman „Das Jahr der Flut“ eine Endzeitwelt

Ein Kommentar zur Klimakonferenz? Dafür ist der Roman zum Glück zu komplex

Es ist schwierig, sich Margaret Atwood als alte Dame vorzustellen. Doch das genau ist sie, kürzlich wurde sie siebzig! Daraus lässt sich schließen, dass, einerseits, Alter etwas ist, das jeder und jedem passieren kann, andererseits, dass man sich vielleicht gar nicht so davor fürchten muss. Auch wenn nicht so genau zu sagen ist, welche Sorte Literatur denn von einer Siebzigjährigen zu erwarten wäre, und auch wenn man sich auf dünnes Eis begibt, wenn man versucht, die Art des künstlerischen Schaffens mit einem bestimmten Lebensalter zu verknüpfen, so lässt sich für diesen Fall resolut feststellen, dass Margaret Atwood weit entfernt davon ist, ein „Alterswerk“ (ein Begriff, dem implizit durchaus etwas qualitativ Relativierendes anhaftet) zu produzieren.

Die Kanadierin war ja auch nie eine Autorin, die das schöpferische Schreiben durch den Fokus der eigenen Befindlichkeit betriebe. Ihr Blick geht weit über das Individuelle hinaus, ist am ehesten der einer überwachen Soziologin, einer Seherin, die hinter der Oberfläche des Bestehenden das Mögliche aufspürt. So entwirft sie Welten, die der unseren ähneln, doch auf beklemmend realistische Weise ins Bedrohliche fortgeschrieben werden. Ihr antiutopischer Roman „Der Report der Magd“, an dem sie im Orwell-Jahr 1984 arbeitete, ist ein moderner Klassiker. Häufig wird Margaret Atwood als Science-Fiction-Autorin bezeichnet. Sie selbst bevorzugt den Begriff „spekulative Belletristik“.

„Das Jahr der Flut“, Atwoods aktueller Beitrag zu diesem Genre, liest sich in mancher Hinsicht wie ein literarischer Kommentar zur letzten großen Klimakonferenz. Dennoch wird der Roman wohl eher nicht zum Kultbuch der Generation Öko avancieren, denn für eindeutige Lesarten ist er zu komplex angelegt. Im Zentrum – wohlgemerkt nicht der Handlung, sondern der zahlreichen Rückblenden – steht die Sekte der „Gärtner“, die in religiöser Inbrunst die Natur verehren. Um nach deren Gesetzen leben zu können, müssen sie sich außerhalb der restlichen Welt halten, die als Gesellschaft zu bezeichnen nicht mehr möglich ist.

Banden beherrschen die Straßen und wenige große Ketten die Konsumwelt. Die Menschen leben ihre Leben nur mehr innerhalb ihrer Wohnviertel. Eine Regierung gibt es nicht; doch eine unheimliche Macht geht von jenen Gebäudekomplexen aus, in denen eine elitäre Forscherkaste daran arbeitet, das Leben genetisch zu optimieren. „Mo’Hairschafe“ mit bonbonbuntem Kuschelfell sind nur die sichtbarsten Ergebnisse.

In der Rückschau baut sich eine Welt auf, die zu dem Zeitpunkt, da der Roman einsetzt, schon Vergangenheit ist. Ein rätselhafter biologischer Super-GAU hat stattgefunden, „die große Flut“ genannt, dem, wie es zunächst scheint, fast alle Menschen zum Opfer gefallen sind, bis auf die ehemalige „Gärtnerin“ Toby, die sich in einem ehemaligen Wellnesshotel vor der Außenwelt verbarrikadiert hat, und die junge Ren, die, als Kind bei der Gärtnersekte aufgewachsen, Edelstripperin geworden ist und nun in einem geschlossenen Raum im Sexklub festsitzt. Wilde Tiere und die verwilderten Kreaturen der Genforscher streifen in den einstigen Menschenvierteln umher.

Es bedarf erhöhter Wachsamkeit, um lesend in diese Welt einzusteigen, denn Atwood pflegt ihre LeserInnen nicht an der Hand zu nehmen. Ganz wie die Lyrikerin, die sie ja auch ist, setzt sie die Welt, die sie schreibend erschafft, absolut. Nie verlässt die Erzählperspektive die Augenhöhe der Figuren, keine kommentierenden Elemente erleichtern das Verständnis, alle Informationen liefert der Text implizit. Zahlreiche Neusprech-Wortschöpfungen, an denen die Übersetzerin (verdienstvoll: Monika Schmalz) sicher ihre Freude hatte, zeigen schon linguistisch an, dass die geschilderte Welt nicht mit der uns bekannten identisch ist. Viel denkende Mitarbeit muss in die Lektüre investiert werden, bis man nicht nur versteht, was wann passiert ist, sondern auch das zeitliche Niveau der Anfangssituation wieder erreicht wird (die beiden Frauen, einsam in ihren Refugien) und das beginnen kann, was nach der üblichen Leseerwartung Handlung genannt wird.

Wer allerdings so weit gekommen ist, ist auf einmal sehr tief drin, mitgefangen in der Atwood’schen Endzeitwelt. Ja, zugegeben, die zahlreichen Gesänge der Gärtner hat man wohl eher quergelesen. Dass die von Frau Atwood erfundene Gärtnerreligion aber reales Potenzial besitzt, belegt die Tatsache, dass deren sämtliche Gesänge bereits vertont und zu Scheiben gepresst wurden. Atwood schreibt im Nachwort, und man meint, sie dabei ganz fein lächeln zu sehen, der Musiker Orville Stoeber, der die CD „Hymns of the God’s Gardeners“ veröffentlicht hat, sei nicht zu stoppen gewesen. Ganz ernst aber fügt sie dann hinzu, man dürfe die Lieder gern jederzeit zu Andachts- oder Umweltschutzzwecken aufführen.

Auf ihrer gut geführten Website erfährt man auch noch, dass in ihrem Büro Recyclingpapier („ancient-forest friendly“) und wiederverwendbare Putzlappen benutzt werden. Irgendwie auch mal schön, wenn eine große Autorin öffentlich den Willen demonstriert, mit kleinen Gesten die Welt zu einem besseren Ort zu machen. KATHARINA GRANZIN

Margaret Atwood: „Das Jahr der Flut“. Aus dem Englischen von Monika Schmalz. Berlin Verlag, Berlin 2009. 478 Seiten, 22 Euro