Tief in der eigenen Biographie

Mit Hilfe der japanischen Methode Naikan sollen sich Straftäter in niedersächsischen Gefängnissen über ihr Leben klar werden. Der Weg zur Selbsterkenntnis geht über die Konfrontation mit den eigenen Gedanken in völliger Stille

Keine Zeitung, kein Fernsehen, keine Musik, kein Schwätzchen mit den Bekannten von nebenan – allein mit den Gedanken. Für einige Straftäter ist diese Vorstellung weder ungewöhnlich noch beängstigend. Die Justizvollzugsanstalten in Lingen und Braunschweig, sowie die Jugendanstalten Hameln und Göttingen bieten Naikan, eine japanische Methode der Selbsterkenntnis, für Gefangene an. Außer in Nieder-sachsen wird die Innenschau auch in rheinland-pfälzischen JVAs praktiziert.

Eine Woche lang haben die Teilnehmer des Seminars keinen Kontakt zu ihrer Außenwelt. In aller Ruhe müssen sie für sich drei zentrale Fragen beantworten: Was haben nahe Menschen für mich getan? Was habe ich im Gegenzug für sie getan? Inwiefern habe ich ihnen Schwierigkeiten bereitet? Jeden Tag setzen sich die Teilnehmer jeweils mit einer anderen Person und einem anderen Lebensabschnitt auseinander.

Vollständig allein gelassen mit den eigenen Gedanken werden sie jedoch nicht. Die täglichen Denk-Phasen werden unterbrochen durch Gespräche mit einem Naikan-Begleiter. „Als Betreuer ist es wichtig nicht zu bewerten“, sagt Gerald Steinke, Leiter des Naikan-Zentrums in Tarmstedt bei Bremen. Bei Naikan gehe es um Fakten. Die Teilnehmer stellen ihre Vergangenheit dar. Der Begleiter hört zu, analysiert jedoch nicht.

Steinke der für die JVAs Seminare anbietet und Betreuer ausbildet, wurde beim Zuhören mit den verschiedensten Reaktionen konfrontiert. „Manche fangen beim Erzählen an verzweifelt zu weinen oder schnaufen vor Wut.“ Ziel der Innenanschau ist, dass die Täter aus ihrer Opferrolle herauskommen. „Oft wird zunächst der Gesellschaft oder der Familie die Schuld zugeschoben“, so Steinke. Indem die Gefangenen sich damit konfrontieren, welche Schwierigkeiten sie ihrem Umfeld oder der Gesellschaft bereitet haben, sollen sie sich ihr Leben bewusst machen und Verantwortung für ihre Verbrechen übernehmen.

Steinke, der zuvor in der Wirtschaft tätig war, begann vor 25 Jahren in Japan an den Selbsterkenntnis-Seminaren teilzuneh-men. Dann kam der Ausstieg aus seinem bisherigen Berufsleben: 1986 gründete er das erste Institut in Wolfenbüttel. Ein Jahr später die Deutsche Naikan-Gesellschaft. 1995 zog das Institut nach Tarmstedt um. Dort bietet Steinke seine Heilmethode für jeden an.

Inwiefern Naikan konkrete Erfolge bei Straftätern erzielt, lasse sich angesichts der Intimität des Verfahrens nur schwer nachweisen, so Lorenz Böllinger vom Bremer Institut für Kriminalpolitik. „Naikan ist keine einmalige Sache. Der Erfolg hängt davon ab, ob es regelmäßig wiederholt wird.“ Der Professor für Strafrecht und Psychoanalytiker führte eine Begleitstudie zum Pilot-Projekt in Lingen durch.

In Peine, einer Abteilung der JVA Braunschweig wurde ein Naikan-Zentrum mit sechs Seminarplätzen aufgebaut. „Wir sind überzeugt von der Methode“, sagt Sprecherin Ines Leitner. Man merke, dass sich im Inneren der Straftäter etwas bewege. Leitner befragte die Gefangenen zu ihren Erfahrungen. Einer berichtet. „Eines ist mir deutlich geworden – ich habe im Leben viel gefordert und sehr viel geschenkt bekommen. Früher konnte ich das nicht so sehen.“

Ewelina Benbene