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Archiv-Artikel

„Die Idee Europa beginnt mit Napoleon“

Europa ist mehr als ein Wirtschafts- und Politikverband. Auch wenn Napoleon Bonaparte daran scheiterte, seine Vorstellung davon durchzusetzen. Zur Verbreitung der Idee hat er beigetragen, sagt der Kulturhistoriker Justus Ulbricht

taz: Herr Ulbricht, vor 200 Jahren ging Preußens Glanz und Gloria bei Jena und Auerstedt unter. Warum feiern wir dieses Ereignis heute – welche Funktion haben solche Jubiläen?

Justus Ulbricht: Solche Jubiläen haben die Funktion, sich der Geschichte generell zu vergewissern. Sich das aus dem geschichtlichen Prozess heraus zu nehmen, was einen besonders interessiert und fasziniert; die eigenen Geschichte zu erfinden. Napoleon ist im Verlauf der letzten 200 Jahre vollkommen unterschiedlich erinnert worden. Aber immer ging es darum, sich auf eine „große Gestalt“ zurückzubeziehen.

Warum noch immer die großen Männer der Geschichte?

Weil sie das, was man Geschichte nennt, schön und übersichtlich machen. Strukturgeschichtliche Prozesse, Veränderungen langer Dauer sind vergleichsweise schlecht darstellbar, unübersichtlich. In solch einer großen Persönlichkeit scheint sich alles zu konzentrieren, was Geschichte ausmacht: Chance und Erfolg, Scheitern und Tragik – und große Veränderungen. Diese wurden ja vor 200 Jahren alle Napoleon zugeschrieben – wobei man als Historiker gerade dies mit drei Fragezeichen versehen möchte. Aber dieser Korse Napoleon Bonaparte, aus einfachen Verhältnissen stammend, spiegelt in sich scheinbar diese Veränderungsprozesse und scheint alle Facetten dessen zu verkörpern, was man Geschichte und Schicksal nennt.

Kann man damit sagen, dass Napoleon unter diesem Blickwinkel auch am Anfang unserer heutigen Diskussion über Europa stand?

Er stand mit am Anfang. Seine militärischen und politischen Erfolge haben die Landkarte Europas entscheidend verändert, er hat manche Gedanken der Französischen Revolution gewaltsam exportiert, er hat sich selbst ein Europa unter seiner und Frankreichs Führung vorgestellt und entsprechende Schritte unternommen, dies auf den Weg zu bringen – und ist dann grandios gescheitert. Aber seine Expansion hat andere wiederum angeregt, weiter über Europa nachzudenken. Das berühmteste Textstück ist hier wahrscheinlich „Die Christenheit oder Europa“ – eine Antwort des deutschen Dichters Novalis auf Napoleons Politik. Insofern steht er wahrhaftig am Anfang eines Nachdenkens und Handelns über Europa, schon deshalb, weil in diesen Jahren um 1806 erstmals eine andere Konstellation in Europa aufscheint: die freundschaftliche Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland.

Wenn man die letzten Abstimmungen in Dänemark oder Frankreich erlebt hat, dann hat sich hier aber nicht viel bewegt. Das europäische Bewusstsein ist heute eher weniger ausgeprägt als zu Zeiten der Aufklärung und der gesamteuropäischen Revolutionsbegeisterung. Bleibt Europa die Idee einiger weniger?

Europa war immer die Idee einiger weniger! Heinrich Mann hat einmal gesagt, Europa sei eigentlich eine Erfindung der Dichter. Die Abstimmungen in den letzten Jahren hatten ja die Verfassung für eine Europäische Union zum Gegenstand. Da scheint mir eine grundlegende Verwechslung vorzuliegen, die wir oft erleben. Die Europäische Union als Wirtschafts- und Politikverband ist nicht Europa. Und die Europa-Ideen und die Träume von Europa haben zu allen Zeiten dazu gedient, die Wirklichkeit eines bestimmten europäischen Einigungsprozesses kritisch zu beleuchten und utopisch zu überblenden. Insofern wäre ich, was Europa angeht, vergleichsweise gelassen, was diese Abstimmungen angeht. Die Leute, die sich da negativ geäußert haben, sind nicht unbedingt Anti-Europäer, sondern haben ziemlich klar benennbare Probleme mit einer bestimmten Form des europäischen Einigungsprozesses, der das Siegel „EU“ trägt. Das ist das Problem.

Letztlich kann man doch wohl sagen: Europa ist eine deutsch-französische Selbstfeier, die sonst kaum jemanden interessiert, oder?

Das glaube ich nicht. Napoleon hat beispielsweise auch in der russischen Geschichte eine zentrale Rolle gespielt. Und wenn heute in Deutschland die Niederlage von „1806“ gefeiert wird, dann wird damit doch letztlich auch die heute eher wieder verflogene Euphorie nach 1945 evoziert, als die beiden Erzfeinde endlich gemeinsam darüber nachdachten, wie man Europa zimmern könnte – ein westlastiges Europa wohlgemerkt, dessen Zeiten inzwischen vorbei sind. Mit der Expansion der Europäischen Union nach Osten, dem Fall der Mauer, der Perestroika in Mittel- und Osteuropa haben wir ein ganz anderes Europa vor Augen, das wir nun bestellen müssen. INTERVIEW:

FRITZ VON KLINGGRÄFF