kuckensema: „Ich und Du und Alle, die wir kennen“ von Miranda July
F Was würde passieren, wenn wir das eigene Leben wie ein einziges großes Kunstprojekt angehen würde? Im Idealfall wäre solch eine radikale Kreativität ansteckend, und jeder in unserer Umgebung, „Ich und Du und Alle die wir kennen“, würde plötzlich fantasievoll, spielerisch und wagemutig mit den anderen umgehen. Der Alltag wäre nicht mehr banal, sondern ein einziges großes Abenteuer voller magischer Momente, und jedes Gespräch wäre Poesie. Solch eine Kunstwelt zeigt uns Miranda July in ihrem Film, und sie selber spielt die Künstlerin Christine Jesperson (!), die eines Tages beginnt, die Grenze zwischen ihren auf Video aufgezeichneten Performances und dem Rest ihres Lebens zu verwischen. In dem Schuhverkäufer Richard erkennt sie einen Wahlverwandten, und tatsächlich hatte er kurz vorher in einem schockierenden schöpferischen Akt seine eigene Hand mit Benzin übergossen und angezündet, um seine beiden Kinder mit dieser Vorstellung zu erfreuen. Keine Angst, die Filmemacherin spielt hier nur mit dem Schmerz und dem Schrecken. Richard wird zwar für den Rest des Films einen dicken Verband um seine Hand tragen, aber die Szene selber ist inszeniert wie ein surreales Werk - von Bunuel vielleicht, oder Dali.
Richard durchlebt gerade eine Scheidung und hat Angst, seine Kinder zu verlieren, Christine hat einen Brotjob und fährt mit ihrem Auto ältere Menschen zu ihren Besorgungen. Sie alle leben in einem typischen amerikanischen Vorort, und dessen adrette Tristesse mit den ordentlichen Vorgärten, den Blicken in die Fenster der Nachbarn und dem immergleichen sonnigen Durchschnittwetter nutzt Miranda July als einen neutralen Hintergrund, gegen den die einzelnen Aktionen der Protagonisten nur um so faszinierender schillern. Dabei gelingen ihr einige in sich perfekte Sequenzen, wie etwa jener kleine Spaziergang, den Christine und Richard zusammen machen. Sie schlägt ihm vor, den Weg zwischen zwei Straßenecken als ihre gemeinsames Leben zu imaginieren. Bei der Straßenlaterne haben sie die Hälfte des Weges und ihrer Beziehung erreicht, und beide schauen in die eine Richtung auf die Vergangenheit und in die andere auf die Zukunft ihrer Beziehung. Die allerdings noch gar nicht angefangen hat, denn der Film erzählt auch die sehr zögerliche und zärtliche Liebesgeschichte der beiden.
Diese bildet zwar das Zentrum des Films, aber dessen Perspektive erweitert sich langsam immer mehr. So lernen wir neben Richards Söhnen Robby und Peter auch dessen pubertierende Mitschülerinnen Heather und Rebecca kennen, deren Interesse an oralem Sex dazu führt, dass sie ihre Techniken an dem 14 jährigen testen wollen. Der 7-jährige Robby verschickt dagegen Nachrichten in einem online Sex-Chat-Room, obwohl er noch keinerlei Vorstellung davon hat, was Sex überhaupt ist. Aber er kann schon ein paar Worte schreiben, „poop“ zu Beispiel - und dies führt zu einer absurden Kommunikation im Internet, die in einem hochkomischen Rendezvous auf einer Parkbank mündet. Wie jeder wahre Künstler überschreitet Miranda July hier auch Grenzen. Eine Zeitlang scheinen in ihrem amerikanischen Suburbia ähnliche seelische Abgründe und Perversionen zu lauern wie in Todd Solondz zutiefst pessimistischem „Happiness“. Doch ihr Weltbild ist viel menschenfreundlicher. Mit großer Souveränität umspielt sie die moralischen Tabus und löst die Konflikte dann in Unschuld und Gelächter auf. „Me and You and Everyone We Know“ gewann beim Sundance Filmfestival den Spezialpreis der Jury und in Cannes die Goldene Kamera für den besten Debütfilm. Dies ist einer der originellsten Filme der letzten Zeit. Wilfried Hippen
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