: Irrungen, Verwirrungen
Die liberale Familie hat ausgedient, die strenge Internatserziehung auch. Was aber bleibt? Die intakte bürgerliche Familie. Paul Ingendaays halb klassischer, halb moderner Adoleszenzroman „Warum du mich verlassen hast“
Das Gebot geht so: Greife zur Feder, wenn du ein echtes Anliegen hast. Schreibe aus der Hüfte oder aus dem Bauch. Warte auf den göttlichen Funken der Eingebung. Und denke nie zu viel darüber nach, was du tust. Es mag ein altes Vorurteil über das Schreiben sein, eines aus der Zeit des deutschen Genieglaubens. Es mag ein Argument sein, das die konservative deutsche Literaturkritik gern ausgräbt, wenn es in einem Buch etwas künstlich zugeht. Trotzdem setzt es sich im Kopf wider besseres Wissen und ganz von selbst zusammen, wenn man Paul Ingendaays ersten Roman „Warum du mich verlassen hast“ liest.
Es ist ein klassischer bis moderner Adoleszenzroman, den Paul Ingendaay da geschrieben hat, und natürlich hat der Spanien-Kulturkorrespondent der FAZ viel darüber nachgedacht, wie man heute noch, zweihundert Jahre nach seiner Erfindung, einen solchen schreiben kann. Er hatte sie alle im Hinterkopf, Musils „Verwirrungen des Zöglings Törleß“ und die Seelennot von Hesses Sensibelchen Hans Griebenrath. Ingendaay hat die Verschiebungen im modernen Adoleszenzroman verfolgt, den Sieg der Verhandlungs- über die Befehlsfamilie, die Orientierungslosigkeit der Helden von Carson McCullers und Jerome D. Salinger. Vor allem aber wusste er um die jugendlichen Helden von Douglas Coupland, Bret Easton Ellis und Christian Kracht, die mit ihren ebenso utopielosen wie humorbegabten Helden bürgerliche Vorstellungen von Autonomie und Selbstfindung lustvoll zerdepperten. Letzterem, mag Ingendaay sich gedacht haben, gilt es, zusätzlich zu den harten Anfechtungen der letzten Zeit, den finalen Todesstoß zu versetzen. Anstatt nach wirklich Neuem an diesem schönen Genre zu suchen, hat sich Ingendaay für Rückbesinnung entschieden.
Man muss sich das ungefähr so vorstellen: Marko, der Held, ist fünfzehn, ein Dichter, Träumer und Melancholiker, eine Leseratte, feingeistig, begabt, empfindsam, also nett, wenn auch harmlos und irgendwie zerdrückt von der Programmatik, die er durch dieses dicke Buch zu tragen hat. Er ist in einer der erwähnten liberalen, unstabilen Verhandlungsfamilien groß geworden – Vater Anwalt, Mutter schön, man lässt sich scheiden und kümmert sich wenig um die Sorgen der Kinder. Marko ist also auf sich allein gestellt. Das zum modernen Anteil des Romans.
Damit aber Marko so richtig schön zerrieben wird, muss er eingekeilt werden. Was böte sich besser an als die gute alte Kontrolle, um das Laissez-faire der Eltern ganz und gar unerträglich zu machen. Es muss also ein Überwachen und Strafen her, ein altehrwürdiges, katholisches Landinternat, das „Collegium Aureum“, eine „Insel der Verzweiflung“, wie Marko in Anlehnung an Robinson Crusoe und Ingendaay in Anlehnung an Hesse findet. Man hat es also seltsam altertümlich mit den ewigen, festen Werten zu tun, mit Gewalt und Schmerz und dessen Verdrängung, mit Schuld, Scham und Schande, dem ganzen Repertoire halt. Das zum klassischen Part des Romans.
Vielleicht aber hat sich Ingendaay das alles ja gar nicht ausgedacht. Vielleicht hat er das alles ja erlebt, der Vorwurf der Konstruktion läuft also ins Leere. In diesem Fall kann man nur seufzen: Umso schlimmer. Denn Marko ist nicht nur selbst sowohl wörtlich wie metaphorisch verwischt, auch ist sein Blick, durch den der Leser seine Welt wahrnehmen muss, matt. Weder ist Sex das große Ding oder fühlt er sich wie viele seiner Genregenossen durch käufliche oder homoerotische Liebe angezogen, noch ist er abgebrüht.
Auch alles andere, was Marko tut, fühlt sich in seiner Fantasie besser an, und er verschleppt es irgendwie. Was seine Sicht angeht: Weder kann man sich viel unter seinen Kumpels vorstellen noch unter seiner Familie oder den Erziehern. Selten wird mal eine Situation, ein Gespräch, eine Landschaft oder nur ein winziger Geruch plastisch oder sonstwie berührend. Und dann die Sprache: In den Sechzigerjahren mag es blütenfrisch gewesen sein, wenn im „Fänger im Roggen“ dauernd etwas „verdammt“ ist „oder so“. Heute wirkt es rührend ranschmeißerisch, wenn Marko den Leser mit „Leute“ anspricht und Sätze mit „solche Sachen“ beschließt, oder mit „Oh Boy“.
Doch es gibt ein paar Seiten in diesem mächtigen Buch, wo es mal spannender wird. Da verwandelt sich dieser Internatsroman nämlich in einen Klosterkrimi à la „Der Name der Rose“, es taucht ein geheimnisvolles „Buch der Ordnungen“ auf – Foucault winkt – und der netteste Mönch, der Verbündete Bruder Gregor, nimmt sich das Leben. Bald aber wird klar: Das alles geschieht nur, damit Marko sich selbst und seine Liebe zur Wahrheit finden kann. Über die großen Worte zur großen Freiheit, die für Marko auf diese Weise anbricht, geht der Plot verschütt. Der Krimi verkümmert zu verrätseltem Zierwerk.
Bleibt also doch die Botschaft, die leidige: Paul Ingendaay will uns sagen, dass sowohl die liberale Familie als auch das strenge Internat ausgedient hat. Und was wäre das Modell jenseits von alldem, das Modell, in dem sich Marko so richtig glücklich entfalten könnte? Die Vermutung liegt nahe: Es wäre wohl die intakte bürgerliche Familie. Die, in der das Familienoberhaupt noch das größte Stück Fleisch auf den Teller bekommt. SUSANNE MESSMER
Paul Ingendaay: „Warum du mich verlassen hast“. SchirmerGraf, München 2006, 504 Seiten, 24,30 €