piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Partei – c’est moi!

TODESTAG Unter ihm wurde die SPD eine Massenbewegung, international bewundert, von den Konservativen gefürchtet. Der Parteivorsitzende August Bebel verkörperte die Widersprüche in der Partei – und führte sie mit eiserner Hand

Die luftige Utopie kommunistischer Freiheit, die Karl Marx entwarf, erschien hier in der erdigen Version des gelernten Handwerkermeisters

VON STEFAN REINECKE

BERLIN taz | „Es folgten über 500 Kranzträger. Danach der Leichenwagen und mehrere Blumenwagen. Den Trägern der Traditionsfahnen schlossen sich die Delegationen aus Deutschland (mit der Reichstagsfraktion), Frankreich, England, Österreich, der Schweiz an. Den Schluss bildeten die Gewerkschaftsorganisationen. Tausende standen auf den Bürgersteigen. Selbst die in Sachen Arbeiterbewegung immerfort hämische ‚Neue Zürcher Zeitung‘ staunte über den Aufwand.“

So beschreibt Günter Grass in dem Roman „Der Butt“ die Beerdigung von August Bebel am 16. August 1913 in Zürich. In Berlin gab es damals 17 völlig überfüllte Trauerfeiern. In den Nachrufen wurde Bebel als Kopf, Blut, Seele, Vater der Sozialdemokratie beschrieben, Maxim Gorki schickte ein Telegramm, Lenin lobte ihn, die stockkonservative Londoner Times auch.

Bebel war schon zu Lebzeiten eine ins Heroische überhöhte Figur: der wortgewaltige Agitator, der Säle zum Vibrieren brachte, der standhafte Parteisoldat, der Inbegriff des Aufstiegs der Sozialdemokratie von einer verbotenen Kleinorganisation zur modernen Massenpartei. Er hatte als Sozialist Jahre in wilhelminischen Gefängnissen verbracht. Doch die Unterdrückung hatte ihn, hatte die Partei stärker und selbstbewusster gemacht. Bebel und die Sozialdemokratie, das waren Synonyme. Kein Vorsitzender einer demokratischen Partei in Deutschland ist so bewundert, so verehrt worden, nicht Adenauer, nicht Brandt.

Bebel kam, darin Gerhard Schröder ähnlich, von ganz weit unten. Er war ein Selfmademan, der es mit Fleiß und Disziplin zum erfolgreichen Handwerksmeister brachte, später zum Millionär und Villenbesitzer am Zürichsee. Dabei blieb er, anders als Schröder, in den Augen der Genossen, immer „gefühlt“ ein Arbeiter, wie Robert Michels, der scharfsinnige Kritiker der Professionalisierung der Bewegung, beobachtete. Bebel war ein doppeltes Versprechen: Der Aufstieg ist möglich, und der Aufsteiger kann loyal bleiben, ohne Klasse und Herkunft zu verraten. Anders als Schröder hat Bebel, ganz gütiger Patriarch, mit seinem Vermögen der Partei und notleidenden Genossen unter die Arme gegriffen.

Die Sozialdemokraten waren nach 1900 bei Wahlen enorm erfolgreich, Partei, Gewerkschaften und Genossenschaften wuchsen rapide. So kam die SPD in eine paradoxe Lage. Sie rang um Chancengleichheit und sozialen Aufstieg in einem System, dessen Untergang sie sehnlichst wünschte. Die Arbeiterbewegung bekämpfte das dünkelhafte Kaiserreich, den bigotten Ständestaat – und rang doch darin um gesellschaftliche Anerkennung.

Gegen die Gemütlichen

Diese Widersprüche verkörperte Bebel, bearbeitete, entschärfte sie. Deshalb erschien er so überlebensgroß. Er bekundete, „Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung zu sein“, erschien aber stets korrekt gekleidet im Reichstag. Abgeordnete, die er in den Gängen des Reichstags mit Pfeife erwischte, herrschte er an: „Wir sind hier nicht im Wirtshaus.“ Er war ein scharfer Kritiker des vom Dreiklassenwahlrecht amputierten Parlamentarismus – und geschlagene 46 Jahre Parlamentarier. Er bekämpfte erbittert die Reformisten um Eduard Bernstein und die „gemütlichen“ (Bebel) Sozialdemokraten in Bayern und Baden, die Schluss mit der Fundamentalopposition machen wollten. Doch mit einer gewaltsamen Revolution, um Kaiser und Bourgeoisie zu stürzen, hatte er nichts am Hut.

Die Sozialdemokratie trieb 1913 auseinander: Die Reformisten träumten vom Bündnis mit dem Bürgertum und von der schmerzfreien Integration ins halb moderne, halb feudale System, die radikalen Linken um Rosa Luxemburg von Massenstreiks und Revolution. Dazwischen hielt Bebel die Zügel in der Hand, verteidigte den Marxismus eisern als Grundlage der SPD gegen die Rechte, Alltagspolitik und Parlamentarismus gegen die Linke. Er war der Inbegriff des Zentristen, der die Fliehkräfte in der Sozialdemokratie vor 1914 zwischen Revolutionsfuror und Anpassung an die Verhältnisse autoritär bändigte. Und er war in einem hemdsärmeligen Sinne Marxist. „Alle müssen arbeiten, Faulenzer gibt’s hier nicht“, so die Ansage. Die luftige Utopie kommunistischer Freiheit, die Karl Marx entwarf, erschien hier in der erdigen Version des gelernten Handwerkermeisters.

Was wollte die SPD 1913? Revolution oder die Reform des Wahlrechts? Der Sozialismus war für Bebel etwas, das wie ein Herbstgewitter kommen würde, ein Naturschauspiel der Geschichte. „Ich lege mich jeden Tag mit dem Gedanken schlafen, dass das letzte Stündlein der bürgerlichen Gesellschaft in Bälde schlägt“, schrieb er an Friedrich Engels. Der Sozialismus war etwas, das über Nacht kommt, wenn die sozialdemokratische Parteiführung schläft.

Unvereinbares verbinden

Dass Revolutionserwartung und Realpolitik nicht so recht zusammenpassten, dass es eigentlich keine Strategie gab, fiel Zeitgenossen auf. Der Linksliberale Helmut von Gerlach notierte 1909 zutreffend: „Bebel hat politisch immer nur von der Hand in den Mund gelebt. Das Endziel stand fest: der sozialistische Zukunftsstaat. Aber über die Wege dorthin hat er sich nie den Kopf zerbrochen.“ Es ist leicht, sich über die Diffusität der Sozialdemokratie damals zu mokieren. Man kann Bebel am ehesten als Mythos im Sinne von Roland Barthes deuten: als Zeichen und Narrativ, das das eigentlich Unvereinbare verbinden musste. Den Wunsch, in der wilheminischen Gesellschaft anerkannt zu werden, per Bildung ins Kleinbürgertum aufzusteigen und diese Gesellschaft, die die Genossen als „vaterlandslose Gesellen“ drangsalierte, zu beseitigen.

Die innere Widersprüchlichkeit ist nur zu verstehen auf der Folie der deutschen Unglücksgeschichte. Das liberale Bürgertum war seit der versickerten Revolte 1848 und Bismarcks Reichseinigung 1870 von oben mit der feudalen Elite verkuppelt. Das Bürgertum war zu reaktionär, zu steif für die antifeudale Revolte. So wurde es Aufgabe der Sozialdemokratie, zu tun, was das deutsche Bürgertum versäumte: die Republik zu erstreiten.

Wie viel Bebel ist noch in der Sozialdemokratie 2013? Bebel war Chiffre für den Aufstieg der SPD zur mächtigen Arbeiterpartei, die SPD heute ist eine Volkspartei im Abstiegsmodus. Und doch findet man, Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Heilserwartung des Sozialismus, noch ins Mentale gesunkene Restbestände. Die SPD macht Realpolitik oft ohne Strategie und mit halb schlechtem Gewissen, ähnlich situativ, wie es für Bebel typisch war. Es gibt in der SPD noch immer ein dunkles Empfinden für die Fallhöhe zwischen Anspruch und Tun. Nur Durchwurschteln, das reicht für Union und Merkel, nicht für die SPD.

Das zweite Erbe mag das Autoritäre, Straffe sein. Auch Freunde attestierten Bebel Züge eines Diktators, Reformisten wie der Bayer Georg von Vollmar empörten sich über dessen Hybris, sich selbst für die Partei zu halten. Das Libertäre, Offene, Lässige hatte es immer schwer in der Sozialdemokratie – unter Bebel, Herbert Wehner und Franz Müntefering. Ein Echo jener Zeit mag schließlich auch die Neigung zum immobilen Zentrismus sein. Bebel unterband die Annäherung an das Bürgertum ebenso rigoros wie den Massenstreik. Beides wären Versuche wert gewesen. Doch die Scheu vor dem Risiko, das Abwarten als Normalzustand überwogen. Die Fixierung auf das Naheliegende durchbrach die SPD nicht oft. Willy Brandt, der 1969 die sozialliberale Koalition wagte, war die Ausnahme. Ohne Brandt hätte die SPD-Spitze die große Koalition fortgesetzt.

Noch heute hat Bebel etwas Leuchtendes. Er repräsentiert die Arbeiterbewegung im Stand der Unschuld. Er verstand sich als Marxist – aber es war ein unschuldiger Marxismus, ohne den Gewaltfetischismus der Leninisten. Und er starb vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, vor der Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD, dem feigen Burgfrieden mit Kaiser und Krieg, vor dem Schisma in die zahnlose SPD der Weimarer Zeit und totalitäre Spartakisten. Verdichtet ist dies in der Fantasie, dass Bebel im August 1914 das Ja der SPD zum Krieg hätte verhindern können und auch die spätere Spaltung der Arbeiterbewegung in doktrinäre Kommunisten und weichgespülte SPD weniger destruktiv verlaufen wäre.

Seine legendäre Uhr ist ein Symbol dafür. Manche glauben, dass sie seit 1913 von Parteivorsitzendem zu Parteivorsitzendem gewandert ist, sorgsam verwahrt vor Reaktion, Krieg, Nazis, den Verlockungen des Kapitalismus. Eine Art Reliquie, ein Unterpfand, das die unzerstörbare historische Verwurzelung der Sozialdemokratie verkörpert. 1963 schenkten Schweizer Sozialdemokraten Willy Brandt das gute Stück. Seitdem befindet es sich im Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung – und nicht in Sigmar Gabriels Westentasche. Aber das ist nicht so wichtig. Legenden müssen im profanen Sinne nicht wahr sein, um zu wirken. Die Geschichte von Bebels Uhr ist vor allem der Wunsch danach – nach einem Zeichen, dass die Sozialdemokratie sich vom Sozialistengesetz bis zur Agenda 2010 im Kern treu geblieben ist.