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Archiv-Artikel

Kein Jammern, kein Protzen

Als 2002 die SPD abgewählt war, fragte sich Bullerjahn: Wo steht das Land?Platzeck würde der Sieg gut tun, Bullerjahn passt in sein Bild von der SPD

AUS WITTENBERG GEORG LÖWISCH

Das Besondere an Guntram Höger ist, dass der Aufbau Ost für ihn funktioniert hat wie in einem Märchen von Helmut Kohl. Das Besondere an Jens Bullerjahn ist, dass er das Scheitern des Aufbaus Ost seziert. Diese Woche haben sich die zwei getroffen, der Unternehmer und der Politiker. Höger hat von Erfolgen erzählt und Bullerjahn von Misserfolgen. Aber Höger hat nicht aufgeschnitten und Bullerjahn hat nicht gejammert. Die beiden haben zusammengepasst.

Höger sitzt am langen Tisch im Besprechungsraum seiner Firma in Wittenberg, Loetec, elektronische Fertigungssysteme. Das Kaffeegeschirr steht auf dem Tisch, die Patente und Zertifikate hängen an der Raufasertapete und es riecht nach Teppichboden. Alles wie immer, nur dass sich ein Haufen Journalisten und Lokalpolitiker im Zimmer drängen, gerade baut ein MDR-Mann sein Mikrofon auf. Höger gegenüber sitzt der Spitzenkandidat der SPD in Sachsen-Anhalt. „Jens Bullerjahn wird Ministerpräsident“, hat Matthias Platzeck vor kurzem prophezeit. Jens Bullerjahn hält sich an der weißen Kaffeetasse fest. Wo soll er bloß hin mit den Händen? „Sie wissen, dass ich eigentlich Elektroingenieur bin“, fällt ihm ein.

Guntram Höger ist 52. Früher war er bei Wittol, das war einer der größten volkseigenen Betriebe in Wittenberg. Haushaltskerzen und Reinigungsmittel. Kurz nach der Wende ist er von einem Bekannten gefragt worden, ob er nicht bei ihm Lötmaschinen mitbauen will. Höger hat Ja gesagt, er kannte den Mann und zwei seiner leitenden Mitarbeiter seit 1986 aus dem Atari-Klub. Atari, das waren in den 80ern die ersten Heimcomputer. Es gab den Commodore und den Atari. Guntram Högers Mutter durfte als Rentnerin in den Westen, da hat sie einen importiert. Beim Kulturbund der DDR im Klub der Intelligenz in der Puschkinstraße haben sie einmal im Monat ihre Computer aufgestellt und Grafikprogramme, Textverarbeitung und die Spiele ausprobiert. Guntram Höger hat die Mondreise gemocht und auch die Reise durch Amerika.

Als sie dann nach der Wende in der neuen Firma waren, stellten sie Kühlschränke für Eisenbahnwaggons her, später Schaltschränke für Roboter des VW-Konzerns. Sie haben eine Elektroschubkarre konstruiert und Automaten, die Getränkedosen zurücknehmen. Es lief. Zehn Jahre nach der Wende, als niemand an die Idee von den neuen Ländern als Tor zum Osten geglaubt hat, hat Höger sogar einen Anruf aus Russland bekommen, ob er Rücknahmeautomaten liefern kann. Er hat den Auftrag bekommen. Vielleicht auch, weil er die Sprache des Auftraggebers kann. Er würde nie prahlen damit. Er sagt: „Mein Russisch reicht aus.“

Jetzt ist er geschäftsführender Gesellschafter, die Loetec GmbH macht Gewinn und die randlose Brille passt gut zu seinen weißen Haaren. Er ist kein Verkäufer, sondern ein Bastler, der gern seine Elektroschubkarre vorführt oder Bilder von den Tassenautomaten für Moskau. Aber er ist trotzdem Arbeitgeber für 27 Mitarbeiter geworden, und auch wenn er bescheiden ist, muss man als Unternehmer von der Politik doch was verlangen. „Wir haben einen kleinen Wunschzettel vorbereitet“, sagt er und schiebt Bullerjahn ein Papier über den Tisch. Sparsamkeit im Staatsapparat steht drauf, die Macht der Industrie- und Handelskammer stutzen, Waggonbau in Halle-Ammendorf doch noch retten.

Bullerjahn kommt jetzt in Fahrt. Genau! Sparsamkeit im Staatsapparat: Gemeinden zusammenlegen, Kreise auch, Verwaltung verkleinern, Neuverschuldung auf null. Wenn in Sachsen-Anhalt weniger Menschen arbeiten, muss auch die Verwaltung kleiner werden. Die IHK, da müssen sich die Unternehmer selbst kümmern. „Dieses heimliche Schimpfen und bei den IHK-Empfängen mit der Faust in der Tasche rumstehen.“ Höger grinst. Und Halle-Ammendorf, wo Bombardier, der kanadische Konzern, die Leute auf die Straße gesetzt hat und jetzt nicht mal eine Nachfolgefirma unterstützt: „Bombardier ist da sehr hartleibig“, sagt Bullerjahn. „Das ist Marktwirtschaft live.“

Als die Sachsen-Anhalter bei der letzten Wahl 2002 die SPD-Regierung unter Reinhard Höppner abgewählt haben, hat sich Bullerjahn hingesetzt. Er wollte ein Papier schreiben. Wo steht das Land eigentlich? Er hat festgestellt, dass er vieles gar nicht durchschaut, obwohl er jahrelang als parlamentarischer Geschäftsführer mit der PDS die Politik der Magdeburger Regierung ausgehandelt hat. Er hat Experten besucht, ist zum Statistikamt gefahren, zu Wirtschaftsinstituten und Universitäten. „Ich habe gesagt, Menschenskinder, wie ist das mit dem Wachstum?“

Aus der einen Seite sind sechzig geworden, schließlich ein Buch. „Sachsen-Anhalt 2020“ wurde eine Abrechnung mit dem Traum vom Aufschwung Ost. „Mal hier, mal dort – wir können die Gießkanne nicht mehr finanzieren“, das sagt er heute noch im Stundentakt.

So was wollte bis dahin eigentlich niemand hören hier, aber das Buch wollten alle haben, und zu Vorträgen haben sie Bullerjahn auch eingeladen. Sogar der neue Ministerpräsident Böhmer brummelte wohlwollend.

Die SPD war auch froh. Endlich ein anderes Thema. Bisher war es immer nur darum gegangen, ob sie mit der CDU oder mit der PDS koalieren solle. Obwohl CDU und FDP gerade für vier Jahre gewählt worden waren. Dann kam Bullerjahn mit seinem Buch. Sie wählten ihn zum Fraktionschef und mit einem Honecker-Ergebnis zum Spitzenkandidaten.

Er hat einen Audi mit Fahrer bekommen und einen von den nordrhein-westfälischen Ost-SPD-Pressesprechern, die F 6 rauchen. Er ist mit seiner Frau ins Modegeschäft gegangen und hat sich Anzüge gekauft. Im Landtag war er die ersten Jahre immer in Jeans und Lederjacke unterwegs, aber das hätten die Senioren in Sachsen-Anhalt für einen Spitzenkandidaten unangemessen gefunden. Matthias Platzeck, der SPD-Vorsitzende, hat ihn zum Chef des Forum Ost der Partei gemacht. Das soll dafür sorgen, dass die wenigen Ost-Sozis sich nicht immer so allein fühlen.

Platzeck würde ein Sieg der SPD gut tun. Bullerjahn ist ein Bergmannssohn aus dem Mansfelder Land. Er hat mal im Kupferkombinat „Wilhelm Pieck“ gearbeitet, als Prozessoptimierer, so ähnlich, wie er jetzt im Land die Abläufe straffen will. Das passt in Platzecks Lieblingsbild von der SPD, die im Maschinenraum schuftet, während Angela Merkel sich auf dem Sonnendeck fotografieren lässt. Wenn der Zupacker Bullerjahn Sachsen-Anhalt übernähme, würde Platzeck wahrscheinlich nur noch mit hochgekrempelten Hemdsärmeln ausgehen, und im Willy-Brandt-Haus in Berlin käme auf dem Klo Maschinenöl aus dem Seifenspender.

Höger und Bullerjahn gehen die Werkräume ab. Normalerweise stellen Spitzenpolitiker bei so einem Rundgang Fragen und machen Späße, um zu zeigen, dass sie auch auf fremdem Terrain der Chef sind. Für die Fotografen wiegen sie in Fabriken Geräte in der Hand, in Kindergärten beugen sie sich zu den Kleinen runter. Bullerjahn fragt nichts. Er läuft neben Höger her, als komme er zum Heizungablesen.

Die Leute von Ministerpräsident Böhmer haben natürlich sofort gespürt, dass der SPD-Mann in der neuen Rolle noch unsicher ist. Wolfgang Böhmer ist schon 70, aber er war Chefarzt und sie haben ihn zum ruhigen Lenker aufgebaut, der Sachsen-Anhalt vor dem unerfahrenen Jungspund schützen muss. Auf einem der Böhmer-Plakate steht: „Der Garant“. Der Bildhintergrund ist in klassischem Grau gehalten, wie bei einer Mercedes-Anzeige. Auf Wahlkampffotos der SPD sieht man, wie Bullerjahn sich den Hemdsärmel hochkrempelt.

Obwohl Bullerjahn sagt, dass er lieber mit der CDU koalieren würde, schließt er Rot-Rot nicht völlig aus. Warum sollte er sich an die Union ketten, wo ihr doch nach allen Umfragen die FDP als Koalitionspartnerin wegrutscht.

Guntram Höger hat begriffen, wohin der Wahlkampf läuft. Jung gegen Alt. Tatkräftig gegen Erfahren. „Lieber einer, der ein bisschen jung ist“, sagt er, als Bullerjahn weghört. „Rot-Rot wäre für uns undramatisch, aber stimmungsmäßig ein Nachteil verglichen mit der großen Koalition.“

Bullerjahn wollte im Wahlkampf eigentlich nur über seine Radikalkur fürs Land reden. Jetzt sagt er, dass er zuspitzen muss. Das ist natürlich ein Spiel. So groß ist Sachsen-Anhalt nicht. Er kennt Böhmer schon ewig, und mit Wulf Gallert, dem PDS-Spitzenkandidaten, ist er befreundet. Aber gerade deshalb muss er sich abgrenzen. Über den alten Herrn sagt er, dass er froh sei, dass der sich nicht als Gigant plakatiert, er wirft ihm Abgehobenheit und Feigheit vor.

Eigentlich liegt ihm das nicht. „Höppner geht, Arbeit kommt“, so hat die FDP letztes Mal plakatiert und 13 Prozent gewonnen. Die Arbeitslosigkeit liegt immer noch bei über 20 Prozent, dafür hat die FDP jetzt nur noch 6 Prozent in den Umfragen. Irgendwie haben die Sachsen-Anhalter keine Lust mehr auf Plakatversprechen. Sie wollen Leute, die Erfolg haben, ohne damit anzugeben. Und welche, die Schwächen benennen, ohne mieszumachen.

Bullerjahn und Höger stehen vor einem Rücknahmeautomaten. Es ist einer von denen für die Russen. Höger steckt eine Dose rein, eine Münze kullert heraus. „Das ist Ihre Glückskopeke“, sagt er und streckt sie Bullerjahn hin. Jetzt wäre der Moment, in dem ein Profipolitiker die Kopeke hochhält. Klick, klick – „Spitzenkandidat Bullerjahn erhält hier vom Vorzeigeunternehmer eine Glückskopeke“, könnte der Bildtext lauten. Bullerjahn steckt das Geldstück ein.