: Fegefeuer und Nahrungssorgen
München hatte den Blauen Reiter, Dresden die Brücke, Berlin den Sturm. Doch der Expressionismus blühte auch in Hamburg, wie die Ausstellung „Entfesselt“ zeigt. Im Zentrum: die erstaunlichen Tanzmasken der Lavinia Schulz
von REINHARD KRAUSE
Lavinia Schulz. Schon der Name klingt nach Filmdrama oder moderner Oper; ein klein wenig mondän und zugleich ungeheuer deutsch. Tatsächlich kommt im Leben dieser Lavinia Schulz einiges zusammen: Boheme und Drama, Revolution und Eigensinn, Kunstreligion und … Totschlag. Am Ende fallen drei Schüsse: Am Morgen des 18. Juni 1924 erschießt die Tänzerin Lavinia Schulz in Hamburg ihren Ehemann und Tanzpartner Walter Holdt, sie informiert ihre Nachbarn, eilt zurück in die eigene Wohnung und versucht, auch sich selbst zu erschießen. Am darauf folgenden Tag erliegt sie ihren Verletzungen.
Ob es sich um einen Doppelselbstmord handelte oder eine Beziehungstat, ist nie abschließend geklärt worden. Die Bestürzung jedenfalls ist groß in Hamburgs Künstlerkreisen des Jahres 1924. Mit ihren Tanzmasken zwischen Phantastik und Comic waren Schulz und Holdt Impulsgeber für die Revolutionierung des Tanzes nach dem Ersten Weltkrieg gewesen. In den Nachrufen ist von „Nahrungssorgen“ der idealistischen Künstler die Rede, vom drohenden Hungertod. Max Sauerlandt, Direktor des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe, mahnt, „nicht noch einmal so tapfer gegen den Strom Schwimmende versinken zu lassen“. Im März 1925 findet in seinem Museum noch eine Retrospektive aus dem Nachlass der Maskentänzer statt. Danach senkt sich der Nebel des Vergessens über Lavinia Schulz und Walter Holdt.
Zu schade, wenn es dabei geblieben wäre. Nichts wüsste man heute vom leuchtend orangefarbenen „Springvieh“, den insektenartigen „Toboggan“-Figurinen, der „Großen“ und der „Kleinen Technik“ oder dem blauen Ritter „Skirnir“. Und der Ausstellung „Entfesselt – Expressionismus in Hamburg um 1920“, derzeit im Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen, fehlte der (auch überregional) einzigartige Mittelpunkt.
Denn zur freudigen Verblüffung wurden 1988 auf dem Dachboden des Museums drei Kisten mit den gut zwanzig Ganzkörpermasken aus dem Nachlass wiedergefunden. Offenbar waren sie nach der Ausstellung von 1925 nie von den Erben abgeholt, aber auch nicht inventarisiert worden. Kaum denkbar, dass die Masken dem Hohn und Auslöschungswahn der Nazis entgangen wären. Nur durch komplettes Vergessen konnten sie die Zeiten überstehen. Nun sind sie restauriert und erstmals in Gesamtschau im Museum ausgestellt, als ein höchst ungewöhnlicher Glanzpunkt der kurzen expressionistischen Epoche.
Im Vergleich zur Dresdner Brücke oder dem Blauen Reiter aus München ist die Hamburger Variante eine Spätform des Expressionismus. In der Ausstellung zu sehen sind vor allem Druckgrafiken und Gemälde aus den frühen Zwanzigerjahren, aber auch scheußlich schön gezackte Möbel und Einrichtungsgegenstände und nicht zuletzt Memorabilien der legendären Künstlerfeste aus dem Umkreis der Hamburgischen Sezession. Diese Hamburger Form des Expressionismus war nicht das Produkt eines elitären Malerzirkels, sondern wurde von einer enthusiastischen jungen Bewegung getragen, die nahezu alle Sparten der Kunst umfasste.
Die Kunst nach dem Ersten Weltkrieg war geprägt von unbändigem Aufbruchsgeist und Lebenshunger, aber auch von materieller Not. In der Ausstellung macht sich dieser Umstand allenthalben bemerkbar: Ärmliche Materialien bestimmen das Bild, selbst Ölbilder haben meist sehr einfache Rahmen. Umso irritierender ist es deshalb, dass die Hamburger Sparkasse, die seit vielen Jahren Kunst der Hamburgischen Sezession sammelt und als Leihgeber auftritt, in ihrem Werbematerial – Fotoshop macht’s möglich – die schönen rohen Originalrahmen gegen güldene Allerweltsrahmen ausgetauscht hat.
Auch Lavinia Schulz arbeitete mit Billigmaterialien wie Sperrholz, schwerem Sackleinen oder Industrieabfällen. Ob nun aus Not oder aus Prinzip. Seide etwa lehnte sie als „Würmerprodukt“ schlankweg ab. Daraus ergaben sich Schwierigkeiten ganz eigener Art: Die Tanzmasken waren, wie es in zeitgenössischen Quellen heißt, bisweilen schwer wie Ritterrüstungen – was sich auch in den Choreografien niederschlagen musste, nicht immer unter dem Beifall des Publikums. Widrigkeiten dieser Art scheinen allerdings nur den Ehrgeiz der Maskentänzerin angestachelt zu haben. Kunst, davon war sie zutiefst überzeugt, müsse gegen Widerstände erkämpft werden, sonst tauge sie nichts. Eine Einstellung, die auch ihrer Selbstwahrnehmung entsprach: „Seit dem 17. Jahr“, schrieb sie in einem im Nachlass erhaltenen Brief, „empfinde ich mein Leben nur wie ein Fegefeuer, wann werde ich durch sein?“
1896 in Lübben, Spreewald, geboren, kam Lavinia Schulz bereits mit sechzehn Jahren nach Berlin und betrieb dort künstlerische Studien, die sich heute nicht mehr genauer spezifizieren lassen. Gegen 1917 lernt sie Lothar Schreyer, einen der großen eigenwilligen Neuerer des Theaters in den Zwanzigerjahren, kennen und wird eine der ersten Mitwirkenden bei dessen Sturmbühne. Schreyer geht es um eine Revolutionierung des Sprechtheaters zu einer „gleichsam kultischen Gemeinschaftshandlung“, ausgehend vom Klang des Wortes: „Wie das Wort im Bühnenkunstwerk fest bestimmt war, so auch der Klang des Wortes, und zwar nach Tonhöhe, Tonstärke und Rhythmus.“ Ausgewählte Bühnenwerke in dieser Art zur Aufführung zu bringen, erforderte Schreyer zufolge allerdings mehrsemestrige Einarbeitung – nicht nur der Ausführenden, sondern idealerweise auch des Publikums.
„Die Missvergnügten und Neugierigen“, konstatierte Schreyer in der Rückschau, „blieben sehr bald aus, und dann hatten wir die Freude, wirklich vor einem Kreis von Freunden zu spielen. Die Öffentlichkeit haben wir niemals zugelassen. Die Herren von der Presse besuchte ich und lud sie ein, mit der Bitte, nicht über uns zu schreiben.“ Eine ebenso revolutionäre wie tollkühne Haltung.
Seine Einstudierung von August Stramms Drama „Sancta Susanna“ jedenfalls geriet im August 1918 zur hoch umstrittenen Sensation. Was wohl nur zum Teil daran lag, dass Lavinia Schulz in einer Szene gänzlich nackt auftrat. Größeren Raum nahm in den Besprechungen die ungewöhnliche Art des Vortrags ein. Einige Zuschauer, schrieb Lavinia Schulz in einer Mischung aus Empörung und Befriedigung, hätten gemeint, sie habe ihren Text „gesungen wie ein Vieh“. Offenbar ein verheißungsvoller Auftakt: 1919 folgte sie Schreyer nach Hamburg an die Kampfbühne.
Über die Persönlichkeit von Lavinia Schulz ist wenig überliefert. In seinen „Erinnerungen an Sturm und Bauhaus“ hob Schreyer 1956 die „dämonische“ Seite seiner „ersten Schülerin“ hervor. Für seine Nerven sei sie eine „harte Probe“ gewesen. Nach einer wüsten handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Lavinia Schulz und ihrem drei Jahre jüngeren Mann Walter Holdt – sie hatten sich bei der Arbeit an der Kampfbühne kennen gelernt –, trennte sich Schreyer von seiner begabten Schülerin.
Zum Zerwürfnis mag beigetragen haben, dass Lavinia Schulz der Dauereinsatz des weihevollen „Klangsprechens“ zu starr und weltfremd erschien: „Fleisch muss Fleisch bleiben“, beharrte sie. Allerdings galt es auch ihr als „Todsünde“, für die eigene Kunst Geld zu nehmen. Aber auch Schreyers Ratschlag, zur Finanzierung des Lebensunterhalts eine Anstellung in einem Laden anzutreten, wertete sie als Affront. Ihre alles in allem spärlichen Auftritte beabsichtigten Schulz und Holdt auf bezahlte Auftritte in Varietés auszuweiten. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Die Finanzsituation blieb prekär – mit den bekannten tödlichen Konsequenzen.
Von den Maskentänzen, die Lavinia Schulz und Walter Holdt zwischen 1919 und 1924 entwickelten, kann man sich in der Hamburger Ausstellung anhand von eigens gefertigten kurzen Tanzfilmen zumindest ein ungefähres Bild machen. Nach Auswertung der erhaltenen Materialien – Fotos, Tanznotationen, Entwürfe, in einigen Fällen auch der Originalmusikauszüge – wurden neue Choreografien entwickelt und in detailgetreuen Nachbauten der Kostüme umgesetzt. Der Tanz des blauen Ritters „Skirnir“ zu Hans Heinz Stuckenschmids „Marsch Alexander des Großen über die Brücken Hamburgs“ dürfte dem Original recht nahe kommen – auch wenn als Konzession an die Tänzer deutlich leichteres Material beim Neubau der Masken verwendet wurde. Ein rechter Grobian ist Skirnir auch in der Lightversion von 2006.
Was sich freilich nicht mehr recht einstellen kann, ist ein Gefühl für den einstigen avantgardistischen Tabubruch. Vielleicht ist schon dies ein Zeichen für die Modernität dieser Tanzkunst: Eine gleichalte Choreografie von Mary Wigman, eine Eurythmieaufführung oder ein so genannter Schönheitstanz erschiene uns heute fremdartiger, gestriger. Die Bühnenauftritte der Düsseldorfer Kunstband Der Plan in den Achtzigerjahren sahen ähnlich skurril aus wie die Fabelwesen der Lavinia Schulz, auch ähnlich charmant.
Wären Walter Holdt und Lavinia Schulz dem Maskentanz auf Dauer treu geblieben? Eine müßige Frage. Zum Ausstellungsbeginn veranstaltete das Museum für Kunst und Gewerbe einen „Maskensturm“-Abend. Zur Aufführung kamen nicht nur die Tänze in den Maskennachbauten, sondern auch Rezitationen im Stil der Kampfbühne oder ein zeittypischer Tanz einer menschlichen Marionette. Am Ende tanzten nur noch die Gesichtsmuskeln. Nach all den Masken wirkte es fast wie ein Schock: Ein Gesicht, phänomenal!
„Entfesselt. Expressionismus in Hamburg um 1920“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg, bis zum 5. Juni; der Katalog (175 Seiten) kostet in der Ausstellung 19,90 Euro. Mehr zum Thema: Athina Chadzis: „Die expressionistischen Maskentänzer Lavinia Schulz und Walter Holdt“. Europäischer Verlag der Wissenschaften 1998, 176 SeitenREINHARD KRAUSE, 44, ist taz.mag-Redakteur