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Archiv-Artikel

Raten oder googeln scheint das Prinzip zu sein

POSTKOLONIALISMUS Einen geschichtsträchtigen Strumpfmaskenball bieten Boyzie Cekwana und Panaibra Canda bei „Tanz im August“

Die Interpretations- und die Recherchehoheit werden dem Zuschauer überlassen

Die Geschichte hat viele Enden, aber keinen Ausgang. Von dieser Überzeugung scheinen Boyzie Cekwana und Panaibra Canda auszugehen. Die Choreografen kommen aus Südafrika und Mosambik und gehören neben Faustin Linyekula, der das Festival „Tanz im August“ in diesem Jahr eröffnete, zu den gefragtesten afrikanischen Choreografen in Europa.

Die beim diesjährigen Festival gezeigten Stücke von Linyekula und Cekwana/Canda haben Ähnlichkeiten, beide gehen davon aus, dass, wie Cekwana es formuliert, die „Träume lange schon den Aasgeiern der Zeit überlassen“ wurden. Dennoch wollen beide keine desolaten Geschichten ihrer Heimatregionen erzählen, sondern Menschen zeigen, die Erlebnisse wie Bürgerkriege, Diktatur und Apartheid selbstbewusst und mit einem milden oder auch sarkastischen Lächeln über die Absurdität von Macht und Gesellschaft überlebt haben. Beide benutzen teils für das Publikum unverständliche Landessprachen und zitieren Elemente aus Tradition und Lifestyle, deren Konnotationen hier größtenteils unbekannt sind. Ein Rezept? Eine Aufforderung? Eine bewusste Ignoranz? Faustin Linyekula sagte kürzlich im Gespräch: „Wenn du in afrikanischen Städten aufgewachsen bist, dann hast du Europa und Afrika in dir, während Europäer nur Europa haben … Das wird Teil des Spiels.“

Der Titel „The Inkomati (dis)cord“ von Cekwanas und Candas Stück bezieht sich auf das Nkomati-Abkommen von 1984, in dem das südafrikanische Apartheidregime und das sozialistisch-autoritäre Mosambik sich versprachen, keine Rebellengruppe gegen die jeweils andere Regierung zu unterstützen. Gehalten wurde es nicht.

Und auch die vier Performer auf der Bühne des HAU 2 scheinen die Sache nicht allzu ernst zu nehmen. In Militär-, Safari-, Golf- und gefakter Partygarderobe assoziieren sie vielmehr lose einen Themenkomplex zwischen Militarismus, Terrorismus, Kolonialismusfolgen, Tradition und Moderne. Eine Rede des ehemaligen Staatspräsidenten Mosambiks, Samora Machel, wird noch nicht einmal für wichtig genug befunden, um sie zu übersetzen. Auffälligstes Bühnenmaterial sind zahllose DIN-A4-Blätter, in die zwei rautenartige Sichtfester hineingeschnitten sind. Man kann sie sich vors Gesicht halten, dann sehen sie aus wie weiße Strumpfmasken mit Pierrot-Augen oder wie Ku-Klux-Klan-Zubehör oder wie Abu-Ghraib-Reminiszenzen.

Wenn die Performer, zwei Männer und zwei Frauen, nun grinsende, zähnefletschende oder stilisierte Kirschmünder unter die Pierrot-Augen malen, gleichen die Papiere Tanz- oder Totemmasken. Das Maskenballmaterial wird dann zerknüllt und verworfen, und eine kurze Piazzolla-Tango-Einspielung motiviert einen kleinen Stehaufmännchentanz, gefolgt von einem Bodenduett zwischen Canda und Maria Tembe, die ihren beinlosen Körper kunst- und kraftvoll an den des Mannes assimiliert. Dann ist noch von einem Wir die Rede, das „stolz auf Grenzen, die wir nicht gezogen haben“, ist, und von einer Frau, die nach der Liebe eines Präsidenten sucht. Ersteres ist klar eine Anspielung auf den Kolonialismus, Letzteres vielleicht ein Hinweis auf Graça Machel, die frühere Frau des Präsidenten von Mosambik, die später dann zur dritten Frau Nelson Mandelas wurde.

Raten oder googeln, das scheint hier vor allem das Prinzip beziehungsweise die Spielanleitung zu sein. Nicht nur die Interpretations-, sondern auch gleich die Recherchehoheit wird dem Zuschauer überlassen. Der lebensgroße Bilderrahmen, in den sich die Performer zeitweise stellen, scheint das Fragmentarische in der Darstellung von Geschichte zu umrahmen. Also kein Puzzle draus machen, sondern wirken lassen, auch wenn ein paar Zusammenhänge sicher nicht schaden würden.

ASTRID KAMINSKI