piwik no script img

Archiv-Artikel

„Sie wollte glauben, es war Zwang. Aber das war nicht die Wahrheit“

UMWEGE Sie war Tochter aus gutem Hause, sympathisierte mit den Faschisten, war im KZ, wurde Kommunistin, saß im Rollstuhl: Der Sohn der Schriftstellerin Luce d’Eramo spricht über die Widersprüche seiner Mutter

Marco d’Eramo

■ Der Mann: Geboren 1947, ist Journalist und Schriftsteller. Er lebt in Rom. Nach einem Physikstudium in Italien ging er nach Paris und wurde Schüler von Pierre Bourdieu. Er war Mitbegründer der italienischen Tageszeitung il manifesto, leitete das Auslandsressort und arbeitete als USA-Korrespondent. Ende 2012 verließen er und andere prominente Autoren wie Rossana Rossanda die Zeitung.

■ Das Werk: Auf Deutsch liegt vor: „Das Schwein und der Wolkenkratzer. Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft“. Er schreibt regelmäßig etwa für die taz, MicroMega, New Left Review.

GESPRÄCH AMBROS WAIBEL

Ende April 2012: Ein 120-Quadratmeter-Apartment über den Dächern von Rom. Wenn man an den Rand der mit Wein, Zitronen, Oliven, Oleander und Erdbeeren üppig bepflanzten Terrasse tritt, sieht man rechts das Kolosseum, links den alten Papstpalast und San Giovanni in Laterano. Der Hausherr zeigt das mit kindlicher Freude. Es windet ein wenig, Tropfen fallen.

sonntaz: Herr d’Eramo, in Rom gab es kürzlich einen großen Literaturkongress, und Sie kommen gerade aus Venedig und Genua zurück. Immer ging es dabei um Ihre Mutter, die 2001 verstorbene Schriftstellerin Luce d’Eramo. Woher kommt dieses neue Interesse an ihr und ihrem Werk?

Marco d’Eramo: Da steckt schon Arbeit dahinter. Nein, im Ernst: Seitdem ich es geschafft habe, den Verlag Feltrinelli davon zu überzeugen, ihr wichtigste Buch neu aufzulegen, also „Deviazione“ – „Der Umweg“ –, läuft es ganz gut. Zu Hause haben wir übrigens immer nur Lucetta gesagt, nach dem richtigen Namen meiner Mutter: Lucette.

Was aber auf Italienisch merkwürdig klingt.

Meine Mutter ist in Frankreich geboren, in Reims. Als sie nach Italien kam, sprach sie mit Akzent, man hat sie verspottet deswegen. Da wollte sie wenigstens einen halbwegs normalen italienischen Namen haben. Also Luce: „Licht“.

Und dann war sie doch plötzlich alles andere als normal.

Das ist sehr wichtig für die Art, wie meine Mutter gelebt hat. Bis zum 27. Februar 1945 …

als sie Menschen aus einem zerbombten Haus in Mainz retten wollte und eine Mauer über ihr einstürzte …

… bis dahin war sie eine schöne, 19-jährige Frau aus großbürgerlichem Haus. Danach haben viele in ihr nur noch die Behinderte gesehen. Und meine Mutter hat alles getan, um mit ihrem Charme, mit ihrem Zauber den Rollstuhl vergessen zu machen. Lucetta ist zu einer professionellen Eroberin der Herzen geworden. Und sie hat sich einen riesigen Kreis ihr ergebener Freunde geschaffen, einen wirklichen Hofstaat.

Sie waren ein Kind. Wie war das für Sie?

Ich habe die Städte, in denen wir lebten, immer danach beurteilt, wie gut man in ihnen als Rollstuhlfahrerin zurechtkam. Als ich später in den USA lebte, war ich beeindruckt. Nirgendwo ist es besser im Rollstuhl. Für die körperlich Gehandicapten wird alles getan, während für die sozial Gehandicapten, für die Armen also – da gibt es kein Mitleid. In Rom dagegen konnte man mit dem Rollstuhl kaum ins Kino gehen. Den Leuten war es peinlich, wenn man sie fragte, ob sie mal helfen können, ah, wie geht das – dieses Gefühl der Beklemmung. Sehr unangenehm, das hat mich sehr geprägt. Aber Lucetta war immer tapfer und diszipliniert.

Trotz der vielen Krankenhausaufenthalte?

Auch da stand sie sofort im Mittelpunkt. Die Ärzte kamen abends zu ihr ans Bett, um mit ihr zu essen. Sie hat Feste organisiert. Einmal, als ich ein Junge war, hatten wir an der Adria ein Sommerhaus gemietet, da kam eine Wandertruppe vorbei. Die spielten Shakespeare, und Lucetta hat sie eingeladen. Sie haben vor unserem Haus zwei Monate gecampt, wir haben zusammen große Abendessen gefeiert. So war sie.

Aber Sie hatten wenig Geld.

Wir hatten immer schreckliche Geldprobleme.

Dabei kam Ihre Mutter aus einer reichen Familie.

Aus einer reichen bürgerlichen Familie. Die gaben uns nichts, wir hatten auch keinen Kontakt, denn sie schämten sich, mit meiner Mutter im Rollstuhl gesehen zu werden. Wir hatten kein Geld, aber wir kultivierten eine Freigiebigkeit ohne eine Lira.

Eine Kultur der Widersprüchlichkeit also?

Das mag aus deutscher Perspektive so scheinen. Meine Mutter hat 1946 meinen Vater geheiratet. Sie haben sich im Krankenhaus kennengelernt. Er war im Russlandfeldzug und hatte durch eine russische Bombe einen Unterschenkel verloren. Er war auch in der Decima MAS, der faschistischen Miliz. Und er ist sein Leben lang Faschist geblieben. Ein besiegter Faschist. Aber unbeeindruckt: Bis ich vierzehn war, hat er mich ständig verprügelt. Meine Mutter kam in das Krankenhaus aus den deutschen Konzentrationslagern.

Und dann heiratet sie einen Faschisten?

Das hat zwei Aspekte: Mein Vater war Lehrer für Philosophie, Rechtshegelianer, also in der Tradition des faschistischen Staatsphilosophen Giovanni Gentile. Ein ziemlich intelligenter Mann, sehr gut aussehend. Er hatte aber dieses Problem, dass er ein gnadenloser Schürzenjäger war. Er musste alle Frauen haben, von 8 bis 88 Jahren, sonst ging es ihm schlecht. Und so hat er wahnsinnig viel Zeit verloren, denn wenn man ein richtiger Don Giovanni sein will, dann ist das ein Fulltime-Job. Er hat nichts mehr gelesen, er ist stehen geblieben, hörte sich aber weiterhin sehr gerne reden. Am Ende wurde er langweilig.

Die zwei Aspekte?

Ja. Erstens: Sie waren beide besiegt, mein Vater als Faschist, meine Mutter im Rollstuhl. Und dann: Meine Mutter konnte einen schönen Mann haben, obwohl sie gelähmt war. Und sie wollte ein Kind haben. Das hat die beiden zusammengebracht. Dabei bin 1947 ich herausgekommen. Und der Name d’Eramo, den meine Mutter behalten hat.

Die Ehe hielt nicht.

1952 hat meine Mutter ihn verlassen. Sie ging nach Mailand, war immer wieder lange im Krankenhaus. Ich war erst bei meinem Vater in Rom, dann bei der Mutter, ein Hin und Her. Ende der 1950er haben sie es noch mal zwei Jahre miteinander probiert – eine Tragödie. Zu Beginn der 1960er lebte ich dann mit meiner Mutter in einer Klinik in der römischen Peripherie. Eine grausige Erfahrung, weil ich unter lauter Kriegsversehrten war. Es roch überall nach Tod. Da hat sich meine Mutter einen alten Studebaker gekauft, mit Handgas und Handbremse. Der verbrauchte zwar einen Liter Benzin pro Kilometer, aber so blieben wir beweglich. Als das Geld aber endgültig alle war, sind wir ein Jahr nach Deutschland gegangen, in das Haus der Ärztin im Taunus, die meine Mutter 1945 nach dem Unfall behandelt hatte. Zu Frau Doktor Ellen Marder nach Glashütten.

Da haben Sie dann Deutsch gelernt?

In dem Dorf gab es nur eine Klasse, weil es nur einen Lehrer gab. So lernte ich zusammen mit Kindern im Alter von sieben, acht Jahren.

Sie waren aber schon 14, oder?

Ja. Es war sehr interessant. Der Mann von Frau Marder war in Russland gefallen. Sie hatte etwas Preußisches, war sehr groß, mit so einer Nase, die durch den dicksten Nebel stößt, wie man auf Italienisch sagt. Sie hatte ein Motorrad und fuhr als Ärztin die Taunus-Dörfer ab. Sie hatte zwei Söhne, Wolf und Jörg, die waren auch riesig – und zwei richtige Neonazis. Aber am Freitagabend haben sie mich manchmal mit dem Motorrad nach Frankfurt ins Bahnhofsviertel mitgenommen. Ich erinnere mich noch genau an die Schilder an den Eingängen zu den Bars und Wirtschaften: „Eintritt verboten für Hunde und Italiener“. Dann gab es noch eine Tochter, Bettina, die hat auch ein Buch geschrieben, „Schnee“, das waren so Erzählungen unter französischem Einfluss, Existenzialismus. Das Resultat war, dass sie sich mit Anfang 20 umgebracht hat.

Ihre Mutter wollte nicht für immer dort bleiben …

Wir hatten Kontakt zu all den berühmten Intellektuellen der Zeit, Alberto Moravia, Dacia Maraini, Elsa Morante und so weiter. Die halfen uns, als wir zurück nach Rom gingen. Ich habe da gelernt, die Schriftsteller in zwei Kategorien einzuteilen: Die einen sind freundlich, sie helfen dir – aber sie schreiben halt so lala; und die, die gut schreiben, sind im Leben richtige Arschlöcher.

Und Lucetta gehörte zu welcher Kategorie?

„Sie wollte glauben, sie sei deportiert worden. Millionen haben sich nach dem Krieg einer Selbsttäuschung ergeben, um sich noch im Spiegel ansehen zu können. Sie wollten sich glauben machen, dass sie keine Faschisten waren“

Schwer zu sagen. Sehr schwer. Sie hat sehr viel gearbeitet an ihren Texten – und das, obwohl sie immer Schmerzen hatte, nicht schlafen konnte, schwere Medikamente genommen hat. Ich arbeite auch hart. Aber meine Mutter hat mir immer vorgeworfen, ich sei ein verdammter Faulpelz.

„Deviazione“ wurde ein Bestseller.

Über eine Million verkaufte Exemplare weltweit. Aber es ist nicht ihr bestes Buch.

Ein Bestseller, der nur ein Jahr in Lucettas Leben beschreibt.

Ja. Aber es war das Jahr 1944/45. Das zählt mehr als andere.

Primo Levi hat gesagt, er sei dem Lager nie entkommen.

Aber umgebracht hat er sich, weil er alt war.

Hat Lucetta sich als Opfer gesehen?

Ich glaube nicht, dass das Wort „Opfer“ zu ihrem Wortschatz gehört hat. Das Lager hat sie auf vielfältige Weise verändert, das ja. Es gibt einen autobiografischen Text von ihr, ein Büchlein aus den 1980er Jahren, wo sie einen Besuch in Dachau schildert. Es interessiert sie alles nicht, die nachgebauten Baracken und all das. Aber dann hört sie, dass im Umkreis des Lagers die Nachkommen der Displaced Persons leben – 27 Nationalitäten. Da, wo nur noch die Herrenrasse leben sollte. Das hat ihr sehr gefallen. Sie hat ihr Leben lang physisch gelitten an den Folgen des Lagers und des Unfalls – aber Opfer, nein.

Sie sind der Sohn einer Überlebenden. Hat das Ihr Leben geprägt?

Nein. Auf mir lastet die Geschichte des Jahrhunderts. Die unglaublichen Schicksale. Das Leiden. Du fragst dich, warum das alles? Das ist „overwhelming“. Es ist wie heute im Irak, wo für einen sinnlosen Krieg eine halbe Million Leute gestorben sind. Und dann wieder bin ich manchmal den Amerikanern dankbar, dass sie verhindert haben, dass sich Deutsche und Franzosen noch mal 200 Jahre die Köpfe einschlagen. Das Dramatische ist, dass die faschistische und nazistische Vergangenheit unter dem Stichwort „Wahnsinn“ abgeheftet worden ist. Was soll das? Welcher Wahnsinn denn? Das war alles sehr rational. Das ist kein Teufel, dem man mit einem Exorzismus begegnen kann. Wir alle können zu Menschen werden, die auf Befehl eines Regimes andere Menschen umbringen. Weil das Regime uns ein Auto gibt, eine Wohnung, Wohlstand.

Lucetta war vom Faschismus fasziniert. Aber warum?

Wir sprechen von einer 18-Jährigen, die in die Lager geht mit Kant, Spinoza und „Mein Kampf“ im Gepäck. Mit Giovanni Gentile, dem führenden faschistischen Philosophen, der das Unterrichtswesen bestimmte, konnte man glauben, dass der Faschismus, wie Hegel sagt, der Weltgeist zu Pferde war. Man konnte glauben, dass der Faschismus den Negerkindern die Zivilisation bringt und dass er die Plutokraten bekämpft. Die Wirtschaftspolitik des italienischen Faschismus war keynesianisch, es gab große Investitionen in die Infrastruktur – Dinge, die von vielen Italiener heute noch positiv bewertet werden. Berlusconi ist einer, der das ganz genau weiß und damit Erfolg hat.

Es gibt in Deutschland den Witz über die Grünen: „Hitler war nicht so schlecht – wenn er nur die Autobahnen nicht gebaut hätte.“

Der ist hübsch. Wenn du in Italien mit Architekten redest, dann sind die alle links. Aber wenn du genauer nachfragst, dann loben sie den Faschismus: Weil der das letzte Regime war, das im großen Stil öffentliche Bauten in Auftrag gegeben hat, sogar ganze Städte hat bauen lassen: Latina, Sabaudia. Die Idee, dass ich dir Freiheit wegnehme und dafür andere Dinge gebe – die ist sehr lebendig. Aber heute nimmt man uns die Freiheit und die Sicherheit und den Wohlstand. Heute gibt es von allem weniger. Heute heißt es: Im Tausch für deine Freiheit lasse ich dich ein wenig weniger arm. Es ist ein „weniger schlecht“, kein „besser“, kein „mehr“.

Wie hat Lucetta die Deutschen gesehen? Waren die Opfer?

„Deviazione“ ist so besonders, weil es ein realistisches Bild der letzten Kriegsjahre zeichnet. Man stellt sich immer eine teutonische Ordnung vor – eine einzige Panzerdivision bis zum Schluss. Von wegen. Auflösung überall.

Ein großer Schwarzmarkt schon vor dem 8. Mai 1945?

Ja, klar. Die deutschen Männer waren alle an der Front. Die Straßenkinder, die Frauen, die alles verkauften, auch sich selbst, die Millionen von „Fremdarbeitern“. Von wegen Götterdämmerung! Es herrschte einfach Chaos.

„Deviazione“ handelt aber vor allem von den Fallen, die Lucettas eigene Erinnerung ihr gestellt hat.

Das ist der Kern, wenn sie schreibt, sie wollte glauben, sie sei deportiert worden, wollte glauben, es war Zwang. Aber das war nicht die Wahrheit. Millionen von Menschen haben sich nach dem Krieg einer Selbsttäuschung ergeben, um sich noch im Spiegel ansehen zu können. Sie wollten sich glauben machen, dass sie keine Faschisten waren, dass sie im Widerstand waren. Dass sie alle der Held von „Schindlers Liste“ hätten sein können. Das ist die Geschichte einer ganzen Generation.

Was bedeutet dann der Titel des Buchs ?

Weil es eben nicht einfach die Erzählung dieses einen Jahres ist. Sondern die Erzählung, wie sie sich dieses Jahr erzählt hat in den verschiedenen Phasen ihres Lebens. Es ist die Beschreibung des langen Umwegs auf dem Weg zur Wahrheit, der 30 Jahre gedauert hat. Es ist ein Roman über die Dekonstruktion der Erinnerung.

Luce d’Eramo

■ Die Frau: Geboren 1925 in Frankreich als Tochter italienischer Eltern, die dem faschistischen Regime nahestehen. 1938 Umzug nach Rom, 1943 nach Norditalien, wo der Vater Staatssekretär der Mussolini-Republik von Salò wird. Nach Arbeitsdienst, KZ-Haft und Flucht wird sie in Mainz bei dem Versuch, Menschen aus einem zerbombten Haus zu retten, schwer verletzt und ist seitdem gelähmt. Nach dem Krieg studiert sie Literatur und lebt als Schrifstellerin. Sie stirbt 2001.

■ Das Werk: „Der Umweg“ erschien 1982 bei Rowohlt und ist wie andere Werke d’Eramos auf Deutsch antiquarisch verfügbar.

Warum war dieser Umweg nötig?

Nach dem Krieg konntest du nicht sagen, dass du freiwillig in einem deutschen Arbeitslager warst. Obwohl das Millionen von Menschen gemacht haben, in der Hoffnung, Geld für sich und ihre Familien zu verdienen. Dass du als Mädchen aus gutem Hause freiwillig nach Deutschland gegangen bist, um herauszufinden, was dort wirklich geschieht. Das war unerzählbar.

Wie bei Günter Grass, der nicht sagen konnte, dass er als Siebzehnjähriger in der Waffen-SS war?

Nein, wirklich, bitte: Lucetta war nicht in der Waffen-SS. Sie war im Konzentrationslager. Aber es war für Grass bestimmt nicht einfach, das in den 1950er Jahren zu sagen.

Lucetta ist zuerst nach Frankfurt-Höchst gegangen.

Genau, 1944. Dort, als freiwillige Arbeiterin von der IG Farben, hat sie mit ihren Kameraden einen illegalen Streik organisiert. Die Kameraden wussten allerdings, dass sie „Mein Kampf“ im Gepäck hatte. Für die war Lucetta zumindest ein Sonderling, man konnte ihr nicht völlig vertrauen. Und die Deutschen wussten, das sie die Tochter eines faschistischen Staatssekretärs war. Und als sie dann krank wurde und auf Intervention ihres Vaters und des italienischen Konsuls nach Italien zurückkam, da wurde ihr klar, dass sie immer privilegiert sein würde. Und da bricht in ihr die Revolte aus, sie wirft ihren Pass weg, provoziert eine SS-Patrouille, wird verhaftet und nun tatsächlich deportiert. Nach Dachau.

Dort wurde sie dann Kommunistin?

Ja, aber sie war nie Parteimitglied. Und es war auch nicht die Erfahrung der nazistischen Gewalt, des Lagers, die sie zur Kommunistin gemacht hat. Sondern die Erfahrung des Klassenunterschieds. Das Ekligste, hat sie immer erzählt, war, als sie 1945 in einem Hotel in Mainz gearbeitet hat und die Waschbecken mit den Zahnpastaresten säubern musste. Dieser Weg von der verwöhnten Gymnasiastin zur Dienstmagd – das hat sie existenziell geprägt.

Sie sagt im Buch, im Lager ist es wie draußen: Nur die Armen leiden, die Eliten entziehen sich.

Ja. Und Lucetta ist deswegen überhaupt nicht moralistisch. Sie findet es nicht verwerflich, dass eine Frau sich im Lager für eine Zigarette prostituiert. Deswegen kotzt mich dieser Ausdruck von den „Empörten“, den „Indignados“, in den aktuellen Protestbewegungen so an: Da muss ich immer an Damen in weißen Handschuhen denken.

Wie ist Lucetta gestorben?

Es war ein harter Tod. 1988 war Lucetta auf der Frankfurter Buchmesse. Auf dem Flughafen hat ein Passant ihren Rollstuhl umgestoßen. Er hat nicht aufgepasst. Davon hat sie sich nie wieder erholt, musste immer wieder operiert werden. Aber ihr Körper war einiges gewohnt. Als sie im Delirium lag, hat sie interessante Dinge gesagt: „Ah, das ist jetzt der Tod? Aber ich habe viele schöne Dinge gesehen.“ Und dann zu mir: „Komm, mach das Fenster auf. Andiamo! Was stehst du wieder so rum, ich kann nicht immer auf dich warten. Komm, andiamo!“ Und dann, als sie gestorben war, bin ich in die Redaktion meiner Zeitung il manifesto und habe den Nachruf auf meine Mutter geschrieben – und den Ticker für die Agenturen.

■  Ambros Waibel, taz-Redakteur, hat nicht nur Italien sehr gern, sondern auch die Menschen dort