: „Im Bauch bin ich Opfer, im Kopf Täter“
INTERVIEW BARBARA BOLLWAHN
taz: Herr Lawinky, während der Premiere des Ionesco-Stücks „Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes“ im Februar am Schauspiel Frankfurt haben Sie den Kritiker der FAZ, Gerhard Stadelmaier, beschimpft und ihm seinen Notizblock entrissen. Nach der Intervention der Frankfurter Oberbürgermeisterin wurden Sie entlassen. Kurz nach diesem Eklat haben Sie der Süddeutschen und der Berliner Zeitung gegenüber freimütig bekannt, als Informeller Mitarbeiter für die Staatssicherheit gearbeitet zu haben. Warum?
Thomas Lawinky: Seit dem Eklat in Frankfurt habe ich so eine große Öffentlichkeit im Feuilleton, dass ich zu einem Beispiel werden will.
Einem Beispiel wofür?
Für die Geschichte der DDR und die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Schließlich habe ich ein halbes Leben dort und ein halbes Leben hier gelebt. Es ist nach wie vor ein sehr, sehr sensibles Thema, und die meisten Leute wollen nicht darüber sprechen. Meiner Meinung nach gibt es da durchaus Parallelen zur Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit im Westen. Wenn ich ehemalige Chefs des Ministeriums für Staatssicherheit sehe, die heute cool über ihre Arbeit reden, oder ehemalige Funktionäre wie Markus Wolf, den Chef der DDR-Auslandsspionage, der Kochbücher verfasst und keine Verantwortung übernimmt, dann finde ich das traurig. Ich bin durch meine Biografie zu einer Sache gekommen, bei der ich mich als Opfer fühle, trotzdem bin ich Täter.
Ist Ihre Offenbarung eine Erleichterung für Sie?
Nein, überhaupt nicht. Das verfolgt mich seit meinem 14. Lebensjahr. Hätte ich den Schritt, mich an die Öffentlichkeit zu wenden, eher geschafft, hätte ich mich eher zu erkennen gegeben.
Sie haben die DDR gehasst, unter der Verlogenheit gelitten, wollten in den Westen. Trotzdem haben Sie eine Verpflichtungserklärung als IM unterschrieben. Warum?
Ich habe die DDR nicht erfunden und die Staatssicherheit auch nicht. Die Generation meiner Eltern hat mich vor solche Entscheidungen gestellt.
Wie war die Kontaktaufnahme der Stasi?
Nach meiner Grundausbildung bei der Armee kam ich in eine Baueinheit. Dort wurde ich von einem Unteroffizier zu einem Major der Rückwärtigen Dienste gebracht und musste in der Stabsbaracke vor einer Tür stehen bleiben. Zwei Soldaten reinigten mit Bohnerkeulen den Flur, es machte klick-klack, klick-klack. Dann ging die Tür auf, und nach elf Wochen Armee, in denen ich niemanden in Zivil gesehen hatte, kam ein Mann in Jeans und Hemd raus und gab mir die Hand. Reflexartig gab ich ihm auch die Hand. Der Mann sagte „Guten Tag, Thomas, komm doch mal rein, erzähl doch mal“. Er fasste mich an der Schulter und schob mich rein. Das Klick-klack auf dem Flur hörte sofort auf, und ich dachte, dass die Soldaten jetzt natürlich denken, ich bin ein Stasischwein.
… das Sie dann ja tatsächlich wurden.
Der erste Soldat, den ich danach traf, der mich auch beobachtet hatte, wie ich zu der Stabsbaracke geführt wurde, auf den bin ich zugegangen und hab ihm gesagt, ich muss dir was erzählen. Der ging aber auf Distanz. Das war für mich eine unerträgliche Situation. Weil ich das System gehasst habe und die Stasi noch mehr.
Warum dann Ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit?
Aus einer Situation der Peinlichkeit heraus, der Scham, der Schande. Ich hätte natürlich sagen können, dass ich mit denen nichts zu tun haben will. Aber mit 21, 22 Jahren in so einer Schrecksituation, in einem Szenarium, das die Stasi inszeniert hat, denkt man nur darüber nach, wie man da rauskommt. Man ist überwältigt und hat Angst, während der 18 Monate Armeezeit in der Einheit als Stasiratte gesehen zu werden. Ich konnte nicht lange darüber nachdenken, ob ich mich dem Teufel verkaufe. Außerdem hatte ich ein Ziel vor Augen: Ich wollte in den Westen, und ich habe eine Möglichkeit gesucht, das zu schaffen – mit oder ohne Stasi.
Wie sollte das mit der Stasi gehen?
Die Frage ist berechtigt, ich will das erklären. Ich dachte, so vielleicht zu erfahren, worauf ich achten muss, wenn ich abhauen will. Ich habe immer noch in mir eine gebrochene Seele, eine gespaltene Persönlichkeit, die ich nicht loswerde. Im Bauch bin ich Opfer, im Kopf bin ich Täter. Aber ich will mich weder als das eine noch als das andere sehen. Diese innere Zerrissenheit werde ich einfach nicht los.
Wie geht man damit um?
In dem Moment, als ich unterschrieben habe, dachte ich, damit halte ich mir alle Möglichkeiten vom Hals, dass mich die Stasi als vermeintlichen Spitzel in der Armee denunziert. Das ist der eigentliche Widerspruch, der mich wahnsinnig gemacht hat.
Wie haben Sie als Kind, als Jugendlicher die DDR erlebt?
Ich habe mich irgendwann mal als anarchistisch-syndikalistisch bezeichnet. Primitiv übersetzt heißt das für meine Jugendzeit: autonom und kriminell. Ich wollte mit 14 Jahren in den Westen abhauen. Dieses anarchistische Potenzial war auch ein Widerstand gegen die DDR. Nach einer Jugendstrafe bin ich in die SED eingetreten, ich habe mich zum Schein um 180 Grad gedreht.
Warum?
Wenn man eine Vorstrafe hat, einen kindlichen Fluchtversuch hinter sich hat, wenn man weiß, dass Briefe abgefangen wurden, die ich mit 14 einem in den Westen ausgereisten Klassenkameraden geschickt habe – dann hat man einen gewissen Respekt vor diesem System. Und man hat auch gesehen, wie Leute in ihrem Job klarkommen, wenn sie in die Partei eingestiegen sind. Ich wollte eine gute Ausgangsposition schaffen, um irgendwann in den Westen zu kommen. Ich hatte begriffen: In diesem Land lügt man. Deshalb habe ich auch vor Gericht gelogen.
Sie meinen die gegen Sie vorgebrachte Anklage wegen „Rowdytums“? Nachdem Sie den Defa-Film „Sabine Wulff“ gesehen hatten, in dem die Insassin eines Jugendwerkhofs, einer geschlossenen Umerziehungsanstalt, zu einer „sozialistischen Persönlichkeit“ reift, haben Sie vor Wut randaliert.
Ja, und der Richter fragte mich nach meinen Gründen. Er wollte wissen, ob mir der Film nicht gefallen habe. Ich habe echt überlegt. Mit 15 Jahren hatte ich begriffen, wenn ich sage, dass mir der Film nicht gefallen hat, wird das ein Politikum. Also habe ich nichts Politisches gesagt, sondern dass ich einfach randalieren wollte. Damit war es ein Dummejungenstreich.
Sie fühlten sich also schon früh als Opfer und wurden deshalb Jahre später zum Täter?
Ich habe die ganze Zeit versucht, für mich eine Formulierung und einen Weg zu finden, weder Opfer noch Täter zu sein. Es ist ja ein fließender Übergang gewesen. Während man Straftäter war, war man auch Schüler und ist im FDJ-Hemd rumgerannt. Es war logisch, dass die Leute in die Partei eingetreten sind. Für viele war es auch logisch, dass man der Staatssicherheit zugearbeitet hat. Die Frage ist ja, ob es heute eine Möglichkeit gibt, diese Terminologie neu zu besetzen.
Wie sollte das gehen?
Man könnte sagen: Es gibt Opfer, Täter, Opfertäter und Täteropfer. Wir haben alle in einem System gelebt, in dem man sich beugen musste, der eine mehr, der andere weniger. Nur zwischen Opfern und Tätern zu unterscheiden führt nicht zu Gesprächen und auch nicht dazu, dass sich andere outen.
Als was sehen Sie sich?
Ich sehe mich als Mensch mit einer Biografie aus beiden deutschen Staaten.
Wollen Sie damit Ihr Verhalten entschuldigen?
Nein, gar nicht. Entschuldigen geht nicht.
Was bleibt für ein Gefühl?
Da ist nach wie vor Hass. Es ist ein Trauma: einerseits ein anarchistisch-syndikalistischer Jugendlicher gewesen zu sein und andererseits als Verräter erwachsen zu werden.
Schämen Sie sich?
Ja, ich schäme mich den Leuten gegenüber, denen ich mit meinem Blödsinn geschadet habe. Das versuche ich zu denken. Es gelingt mir nicht immer. Der Hass auf das damalige System überwiegt nach wie vor.
Wie hält man das aus?
Man kann viele Drogen nehmen, man kann viel Sport machen.
Hatten Sie Selbstmordgedanken?
Ja, während der Armeezeit, heute nicht mehr.
Haben Sie versucht, Kontakt zu Leuten aufzunehmen, auf die Sie angesetzt waren?
Im Frühjahr 1988 wollte ich einen Armeekameraden besuchen, dem ich durch eine Aussage gegenüber der Stasi geschadet hatte. Doch damals war das unmöglich. Er wollte nicht mit mir reden.
Sind heute solche Gespräche möglich?
Das mache ich doch gerade. Aber ich würde mir wünschen, dass sich die wirklich Verantwortlichen, die Stasioffiziere, die mich in diese Situation gebracht haben, mit an den Tisch setzen und ihre Verantwortung übernehmen.
Wie war der Mauerfall für Sie?
Furchtbar. Es war der größte Schock meines Lebens, zu begreifen, dass alle „Anstrengungen“, in den Westen zu kommen, vergebens waren. Plötzlich vor offenen Toren zu stehen war absurd.
Hat Ihr exzessives Spiel auf der Bühne mit Ihrer Geschichte zu tun?
Jeder Schauspieler bringt seine Biografie auf die Bühne, ich bin doch kein Einzelfall. Wenn ein Schauspieler eine wunderbare Panzerfahrerpantomine hinlegt, dann deshalb, weil er bei der NVA Panzerfahrer war. Das Leben hinterlässt Spuren. Was wären wir denn ohne unsere Biografien?