: Mehr Schall und Rauch?
TOCOTRONIC traten mit ihrem aktuellen Album „Schall und Wahn“ im Astra Kulturhaus auf. Über ein Konzert mit viel Krach um nichts
Es ist verpönt, Leute nach ihrem Alter zu beurteilen. Bei Musikern macht es dennoch jeder. Ob sie als überaus talentiert für ihre jungen Jahre gelten, legendär mit 27 Jahren sterben oder ertragen müssen, wie jedes ihrer ergrauten Haare genauestens gezählt und kommentiert wird. Dafür ist die Beleuchtung zum Glück zu grell, als Tocotronic am Sonntagabend das Zusatz- und Abschiedskonzert der Tour zu ihrem neuen Album „Schall und Wahn“ geben. Wie schon am Abend zuvor strömen Scharen von Menschen ins ausverkaufte Astra Kulturhaus in Friedrichshain, das insgesamt etwa 1.500 Zuschauer fasst. Zahlreiche unter Zwanzigjährige drängeln sich durch eine Menge Mittdreißiger, von denen viele wohl selbst ihre Jugend mit der Band verbracht haben. Richtig, auch die Musterknaben der Hamburger Schule gehen langsam auf die vierzig zu.
Nach der Berlin-Trilogie
Mitte der Neunzigerjahre schrieben sie der Jugendkultur mit ihren eingängigen Songs zahlreiche Hymnen. Wie also altern, wenn ihnen noch immer „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein“ (1995) hinterhergesummt wird? Zum 50. Mal, ja, sie tragen keine Trainingsjacken mehr. Die hätten auch nicht zu der Theatralik gepasst, die sie jetzt auf der Bühne an den Tag legen. Sänger und Gitarrist Dirk von Lowtzow muss nur „Endlich zu Hause“ sagen, und die Berliner beginnen zu jubeln. Pathetischer als mit dem ersten Lied „Eure Liebe tötet mich“, das auch auf der neuen Platte an gleicher Stelle steht, hätten sie dem Publikum ihre Zuneigung nicht zeigen können. „Eure Liebe bringt mich ins Grab“, heißt es da, „Und doch bin ich / Unersättlich.“
Show und Posen
Melodramatisch, prätentiös und seriös seien sie geworden. Das wird ihnen immer wieder hinterhergerufen, seit sie ihre Berlin-Trilogie abgeschlossen haben. Gemeint sind damit ihre letzten drei Alben, „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005), „Kapitulation“ (2007) und nun „Schall und Wahn“ (2010), die sie alle in Berlin mit dem Produzenten Moses Schneider aufnahmen. Es sind auch die, bei denen Rick McPhail, der erst seit 2004 offiziell zweiter Gitarrist ist, mitwirkte.
Sicher, die Gitarren sind opulenter gespielt, der Rhythmus donnernder als früher, und von Lowtzow verliert sich förmlich in seinen rätselhaften, teilweise fast esoterischen Worten. Außerdem hat er sich ein paar divenhafte Posen angewöhnt. Die Arme starr und mit abgespreizt angespannten Fingern zu heben zum Beispiel, als würde er das Publikum beschwören wollen. Oder sich mit ausgreifendem Schwung beinahe majestätisch bis an die Füße zu verbeugen. Aber trotz der blaugrauen Hemden, trotz des Pathos, hängt ihnen ihre Selbstironie mit einem derartigen Gewicht an, dass sie kaum abheben können. Wem von Lowtzows Unterton in den Ansagen nicht genug ist, der müsste doch zumindest bei den zahlreichen Plüschtieren auf der Bühne skeptisch werden. Warum Bassist Jan Müller einen possierlichen Stoffhasen streichelt, während der Sänger mit edler Geste weiße Tulpen in die Menge wirft. Oder wenn Schlagzeuger Arne Zank zum Mikro vorhechtet, um mit trotteligen Bewegungen, die an verschlafene Morgengymnastik erinnern, „Bitte gebt mir meinen Verstand zurück“ (1996) zu fordern.
Rückkopplungsmusik
Manchmal wirkt es, als würden sie noch mal neu entdecken, dass man mit Instrumenten und vor allem durch Rückkopplung wunderbar Krach machen kann. Vielleicht hätten sie aber zwei, drei der ausufernden und beinahe Noise-lastigen Instrumentalstrecken weniger, im Gegenzug dafür einen Song mehr spielen können. Obwohl man bei der Setlist des etwa zweistündigen Konzerts kaum meckern kann. Mit großen Schritten rauschen sie durch ihre eigenen Schaffensphasen. Bis auf wenige Stücke kosten sie das neue Album voll aus, springen zurück zu alten Stücken wie „Drüben auf dem Hügel“ (1995) von der ersten Platte oder widmen andächtig „Jenseits des Kanals“ (1999) dem Produzenten ihres Albums „K.O.O.K.“, der kürzlich verstorben ist.
Höhepunkte
Von Lowtzow muss kaum mehr bitten, die linke Faust in die Höhe zu heben, da nehmen ihnen die Zuschauer ihren Text vorweg: „Aber hier leben, nein danke“ (2005). Fehlt nur noch der triumphale Höhepunkt des ganzen Theaters. Oder eben die Katastrophe. Die zweite Zugabe, „Die Idee ist gut, doch die Welt noch nicht bereit“ (1995), kulminierte in einen minutenlang inszenierten Rückkopplungslärm – unterlegt mit „Die großen Vögel“ von Ingrid Cavens, die auch in ihrem neuen Video „Im Zweifel für den Zweifel“ spielt. Der Krach ist so gewaltvoll, dass er den Boxen wie auch dem nächsten Tinnitus entstammen könnte. Das ist Schall und Wahn. Da können Tocotronic noch so alt werden.
TINA GEBLER