: „Hitler zum bösen Eroberer geschönt“
Nach 1945 erfanden Nichtjuden in Deutschland eine direkte Verbindungslinie von Napoleon Bonaparte zu Adolf Hitler. Dahinter verbarg sich auch eine antisemitische Selbstversöhnung, sagt der Literaturwissenschaftler Klaus Briegleb
taz: „Höllenhund“ oder „Heiland“, „Erlöser“ oder „Lucifer“ – mit solchen Beinamen geisterte Napoleon durch die Literatur des frühen 19. Jahrhunderts. Für Friedrich Hölderlin war er gar der „Unnennbare“. Gibt es so etwas wie eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Figur Napoleon in der deutschen Literatur?
Klaus Briegleb: Nein. Wir müssten über Diskontinuitäten reden. Ähnlich wie Heine wollte Hölderlin die Botschaften, die er mit dem Namen Napoleon verband, literarisch hüten, nicht ausschreien. Heine war da schon offensiver. Aber auch er, ein „in jeder Hinsicht politischer Schriftsteller“, behandelte Napoleon als Mythos, als einen Befreierhelden, dessen Stunde noch nicht gekommen ist. Er sah seine historische Spur also dort eingegraben, wo wir eine kollektive Seele vermuten. Die Massenseele bildet keine moralischen Urteile, sondern hofft auf Erlösung. Die Helden sterben darüber, ihr Mythos lebt.
Worin besteht dieser Napoleon-Mythos?
Indem Heine den Napoleon-Mythos literarisch in Deutschland überhaupt erst ausarbeitete, ihm märchenhafte Züge gab, suchte er einen toten Eroberer als sozialen Befreier, als den „Sohn der Französischen Revolution“ im nationalen Milieu populär zu machen, ihn also in dieser Bedeutung dem Gedächtnis der Massenseele anzuempfehlen. Indem er das Befreiungsmärchen aber zugleich aus den Widersprüchlichkeiten heraushielt, in die sich die napoleonische Ordnungspolitik verwickeln musste, hatte er Platz sowohl für seine Kritik an Napoleon als auch vor allem für sein Misstrauen gegenüber der Massenseele, ob sie denn – als nationales Kollektiv – einen Eroberer sich je als Befreier werde denken können. Das ist noch immer aktuell.
Für die nationalen Bewegungen zwischen 1806 und 1815, die immer wieder auch einen antisemitischen Charakter trugen, galt Napoleon zumindest eher als Inkarnation des Besatzers denn des Befreiers. Von großen Teilen der jüdischen Bevölkerung hingegen wurde er durch die Einführung der Gleichheit vor dem Gesetz eher als dieser Befreier erfahren. Spielen diese Erfahrungswidersprüche bis heute eine Rolle?
Diese Frage interessiert mich sehr. Napoleon hat als Eroberer und Ordnungspolitiker in Europa kurz nach 1800 verschiedene Edikte aufgehoben, die den alten Unrechtsstatus der Juden festgeschrieben hatten, aber viele Juden litten und leiden – und dies in der Tat bis heute – an den Inkonsequenzen des Befreiers. Auch der Code Civile reichte nicht an die sozialen Wurzeln des Judenhasses. Erinnern sich Juden in aller Offenheit auch nach der Schoah noch an die widersprüchliche Rolle Napoleons in ihrer Geschichte, so trifft das für die Nichtjuden gerade in Deutschland nicht zu. Im Gegenteil. Da wird Erinnerung verdrängt und zugedeckt.
Wie kommt das?
Eine Ursprungsszene dazu: Deutsche Intellektuelle erfanden nach 1945 die Schurkenlinie von Napoleon zu Hitler, auf der weder eine napoleonische Rechtspolitik für noch eine nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen die Juden in Europa vorkommen. Hitler wurde zum bösen Eroberer deutschen Landes geschönt. Dankbar nahm man es zur Kenntnis, wenn Gäste aus Frankreich darüber schwadronierten, wie vergessen Napoleon daheim inzwischen sei. Das war, an der Oberfläche, akademische Geschichtsklitterung im Dienste der deutsch-französischen Aussöhnungspolitik. Unter ihrer Decke agierte eine andere Politik: deutsche antisemitische Selbstversöhnung. Intellektuelle nahmen ein Bad im angenommenen Unschuldsgefühl des Volkes und legitimierten dergestalt seine Unfähigkeit, über den Verlust des Liebesobjekts Hitler zu trauern – also dessen, der das antisemitische Volksmandat vollstreckt hatte. Die Prophezeiung, dass es so kommen werde, steckt in Heines Konfrontation des napoleonischen Kaisermärchens mit dem kaiserlichen Judenfeind Barbarossa im Kyffhäuser, dessen Wiederkehr der germanische Volksdämon ersehnt. Aber auf die Emanzipation der Juden ist Heines Napoleon-Mythos nicht allein bezogen.
In das deutsche Volksbewusstsein ist Napoleon als die äußerst ambivalente Figur des Gernegroß eingegangen: lächerlich, aber nicht ungefährlich. Woher stammt diese sprachpolitische Figur? Gehört sie ebenfalls in den selbstvergessenen Diskurs nach 1945?
Nicht direkt. Der Antisemitismus war verboten, und ein verbotener Antisemitismus äußert sich in aller Regel nicht über direkte Bezugnahme. Wir könnten spekulieren, „das deutsche Volk“ halte das Bild Napoleons klein, weil es das Gerücht vom großen Freund der Juden gerade jetzt nicht ertrage. Andererseits erfindet „das Volk selbst“ keine Karikaturen, es spricht sie nach. Und eine offene Beziehung von bildschaffenden Individuen (Karikaturisten) auf ihre eigene Massenseele gibt es auch in Beziehung auf die Napoleon-Gestalt nicht. Heine als Miterfinder des psychoanalytischen Denkens würde vielleicht sagen, wir leben in einer „Übergangsgesellschaft“, warten wir ab, welches Bild Napoleons im Gedächtnis der Völker überleben wird und welche Helden ihrer Selbstidentifikation an seine Stelle treten werden. Hitler hat den Befreier der Juden nicht gedacht, sondern sich vor dem kleinen Gernegroß als Eroberer des Ostens – gefürchtet! Das Volk könnte sich an dessen Russlandfeldzug erinnern und ihm die Gefolgschaft verweigern.FRAGEN: FRITZ VON KLINGGGÄFF