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Archiv-Artikel

„Ich habe keine Angst vor meiner Angst“

EUROPA Nicht nur über Lampedusa versuchen afrikanische Flüchtlinge den Kontinent zu erreichen. Tresor aus Kamerun plant die gefährliche Überfahrt von Marokko nach Spanien

Die Fluchtroute

■ Die Zahl: 6.400 Menschen gelangten 2012 laut Frontex über die westliche Mittelmeerroute illegal nach Europa.

■ Die politische Lage: Marokko kooperiert bei der Grenzsicherung eng mit Spanien. Tausende subsaharische Migranten sitzen deshalb in dem Land fest.

■ Die Festgenommenen: Während des Opferfestes nahmen Polizei und Militär nach Angaben des Innenministeriums in Rabat 700 Menschen fest, die versuchten, nach Spanien zu gelangen.

■ Der Versuch: 300 Flüchtlinge scheiterten dabei, schwimmend die Enklave Ceuta zu erreichen. 450 versuchten mit Booten die Straße von Gibraltar zu durchqueren. 50 gelang die Überfahrt. (cja)

AUS TANGER UND MELILLA CHRISTIAN JAKOB (TEXT) UND JULIAN RÖDER (FOTOS)

Die Straße von Gibraltar misst 14 Kilometer an der schmalsten Stelle. Doch Strömung und Winde sind stark. Mehr als einen Kilometer pro Stunde kommt man in einem Schlauchboot nicht voran. Beim letzten Mal hat er sich die Hände am Paddel aufgescheuert, jetzt hat er sich dünne Bauarbeiterhandschuhe besorgt. „Ich mache das nicht wie die anderen, ich gehe es professionell an“, sagt Tresor. Alle Infos über Strömungsverhältnisse, das Einsatzgebiet der spanischen Guardia Civil, die verschiedenen Materialien von Schlauchbooten hat er gesammelt, Kondome gekauft, in die er Handy und Geld einwickelt gegen Salz und Wasser, sich Tidenkalender und Telefonnummern in Europa beschafft.

In seinem Pass steht der Name Ndjeyig Marius, aber das interessiert hier in Boukhalef keinen. Es ist ein Neubauviertel im Osten der marokkanischen Hafenstadt Tanger, Tausende Wohnungen in verzierten weißen Häuserblöcken. Doch bevor diese an einheimische Mittelschichtsfamilien vermietet werden konnten, siedelten sich in Marokko festsitzende Transitmigranten, aus Guinea, Kamerun, dem Senegal, Nigeria oder Kongo, in den teils unfertigen Häusern an. Bleiben, das will keiner von ihnen.

Tresor war das letzte Mal am Montag auf dem Meer, die Gendarmerie stoppte ihr Schlauchboot, er zeigt verwackelte Handyfotos aus dem Gefängnis. Er ist 30 Jahre alt, Kamerun verließ er 2006, an Europa dachte er damals nicht. Stattdessen wollte er in Algerien einen Betriebswirtschaft-Master machen. Erst ging alles gut, doch 2008 kam er wegen illegalen Aufenthalts ins Gefängnis, die Algerier schoben ihn nach Mali ab. Zwei Jahre hing er dort fest, dann ging er nach Tunesien, versuchte vergeblich einen Platz in einem Boot nach Lampedusa zu ergattern. Seit Januar ist er in Marokko, bis Ende August lebte er in einem Wald vor der spanischen Exklave Melilla. „Die Hölle“, wie er sagt, der Weg über den Zaun zu gefährlich. Zurück nach Kamerun will er nicht und so kam er nach Boukhalef.

Die Chance: das dreitägige Opferfest

Das Ghetto Boukhalef ist der Wartesaal Europas, doch jetzt soll es weitergehen. Am nächsten Tag, einem Mittwoch, beginnt Eid al-Adha, das dreitägige islamische Opferfest. „Morgen um zehn Uhr töten die marokkanischen Familien eine Ziege“, sagt Tresor und deutet mit der Hand einen Schnitt durch die Kehle an. Es ist wie der Heilige Abend in Deutschland, alle sind bei ihren Familien, und zwar, das hoffen die Flüchtlinge in Boukhalef, auch die Gendarmen, die sonst die Küste bewachen. „Hunderte wollen dann losfahren“, sagt Tresor.

In weißem T-Shirt, kurzer Hose in Tarnfarben und einer olivgrünen Strumpfhose sitzt er in einer Zweizimmerwohnung im vierten Stock. Ein paar graue Schaumstoffmatratzen, eine Lampe, eine Steckdosenleiste mit noch mehr Steckdosenleisten, an denen Handys hängen. Neun Menschen teilen sich die Wohnung, alle hier haben mehrere Versuche der Überfahrt hinter sich. Martin aus Kamerun versuchte es in diesem Monat fünf Mal, die schwangere Joylene mit ihrem Mann Colins, die ihre beiden Kinder bei den Großeltern in Kamerun zurückgelassen haben, 15 Mal in den letzten zwei Jahren, sagen sie.

Viele hier sprechen fließend Englisch und Französisch, haben eine Ausbildung oder studiert. Die Hoffnung auf sozialen Aufstieg, auf den Eingang in die wachsenden Mittelschichten der subsaharischen Staaten, haben sie trotzdem aufgegeben. Ihm gehe es auch „um Freiheit“, sagt Tresor. „In Afrika kannst du nicht sagen, was du willst, dich kann jemand angreifen, bestehlen oder töten. Keiner setzt deine Rechte durch. In Europa werden deine Rechte respektiert.“

Doch bislang stoppte die Armee mit ihren Radarstationen, Wärmebildkameras, Schnellbooten und Nachtsichtgeräten sie jedes Mal. Die Flüchtlinge fürchten die unberechenbare Gewalt der Soldaten. Am Montag, bei ihrem letzten Versuch, haben die Soldaten Celine, einer jungen Kamerunerin mit kurzen blondgefärbten Locken, mit einem Messer eine tiefe Schnittwunde am Arm zugefügt, ihrem Bruder schlugen sie derart auf den Schädel, dass sie fürchteten, er verblute. Kürzlich sei ein Senegalese ertrunken, den die Armee auf dem Meer verprügelt habe, sagen sie. „Aber sie misshandeln uns nicht nur“, sagt Joylene. „Sie nehmen uns auch das Material weg.“

Tresor holt zwei große Pakete aus dem Nebenraum. Ein grünes Schlauchboot, „hier fahren zehn Leute mit“, die Gruppe hat Geld zusammengelegt; eine Pumpe, in schwarze Folie eingewickelte Paddel, Schwimmwesten. Ein paar der Männer ziehen sie an, nehmen dazu eine Bibel in die Hand und posieren voreinander. „Die Westen sind nicht gut, sie sind nach 24 Stunden voller Wasser“, sagt Tresor, in einer anderen Tüte sind kleine schwarze Gummireifen, er bläst einen davon auf und zieht ihn sich unter die Arme, damit will er sich vor dem Ertrinken schützen.

Die Flüchtlinge kalkulieren knapp. Pro Kilo Nutzlast kosten die Boote etwa einen Euro, deswegen wird je 40 Kilo Nutzlast ein Passagier eingeladen, obwohl er mit Gepäck gut das Doppelte wiegt. So bleiben die Kosten für Boot, Paddel, Schwimmweste und das Ticket an den Strand bei gut 100 Euro. Das ist ein Bruchteil dessen, was Schlepper für eine Überfahrt etwa in der zentralen Mittelmeerregion verlangen. Doch diese Summe immer wieder aufzubringen überfordert fast jeden hier.

„Wir müssen was gegen den Stress machen. Runterkommen“, sagt Tresor. Die Gruppe geht ein paar Häuser weiter, es ist eine Art illegale Wohnzimmerbar. Senegalesischer Elektropop ist voll aufgedreht. Knapp 20 Männer, vier Frauen sitzen herum. Alle sind betrunken. Die Stimmung ist aufgeregt, die Ersten wollen schon in wenigen Stunden aufbrechen. Der Barmann holt zwei Literflaschen Gin, Coca-Cola, Eiswasser und Plastikbecher. Tresor läuft mit der Ginflasche herum, lässt alle Anwesenden mit der flachen Hand auf den Deckel klopfen, es soll Glück bringen. Irgendwer sagt: „Auf die letzte Nacht in Afrika“, sie prosten sich zu, bis jemand „Ratissage“ ruft. Razzia. Alle rennen die Treppe rauf, hoch auf das Dach.

„Sie verprügeln uns, sie schlagen alles kaputt oder nehmen mit, was sie gebrauchen können“, sagt Tresor. Er steht auf dem Dach, alle reden durcheinander und schauen herab, versuchen, Polizisten zu erspähen, doch es sind keine in Sicht. Fehlalarm. Trotzdem verbringen sie die ganze Nacht auf dem Dach.

Die letzte Razzia am 10. Oktober überlebten nicht alle. Der Senegalese Moussa Seck, 29, flüchtete sich auf das Dach, die Polizisten verfolgten ihn, Seck stürzte hinab und starb. Am 24. Juli verprügelten Polizisten in Tanger den 39-jährigen Kongolesen Toussaint-Alex Mianzoukouta, bis er ins Koma fiel und nach drei Tagen starb.

Die Todesfälle seien „symptomatisch“ für die staatliche Gewalt gegen MigrantInnen, sagt Helena Maleno von der spanischen NGO Caminando Fronteras. „Der Druck ist enorm.“ Seit elf Jahren lebt die Juristin in Tanger und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen. In den letzten Monaten habe die Polizei eine härtere Linie eingeschlagen. Maleno berichtet von Razzien in den frühen Morgenstunden, die Polizei stehle und zerstöre das Eigentum der Flüchtlinge, verprügele sie und nehme ihnen die Pässe ab. „In Tanger ist jetzt die Anzeige einer jungen Frau aus der Elfenbeinküste anhängig. Sie sagt, dass Polizisten sie im Gefängnis vergewaltigt haben.“

Die Marokkaner sprechen von „Clandestins“, Illegalen, doch die Angehörigen vieler afrikanischer Staaten brauchen kein Visum, ihr Aufenthalt in dem maghrebinischen Königreich ist legal. Illegal ist nur die Einreise nach Spanien. 2005 versuchten Tausende Subsaharis die Zäune zur spanischen Enklave Melilla zu stürmen, es gab Tote. Seitdem nimmt Spanien Marokko in die Pflicht, die Flüchtlinge aufzuhalten. „Spanien hat seinen Grenzschutz ausgelagert, und dafür fließen jedes Jahr Millionen von Euro hierher“, sagt Maleno.

Obwohl Marokko und Spanien die einzige Landgrenze der EU mit Afrika verbindet und die Straße von Gibraltar vergleichsweise leicht zu durchqueren ist, zählte die EU-Grenzschutzagentur Frontex 2012 etwa 6.400 illegale Grenzübertritte zwischen den Ländern – etwa zehn Prozent aller irregulären Einreisen in die EU. Allein seit Anfang August hat Malenos Initiative, die mit den Rettungsdiensten und staatlichen Stellen kooperiert, mindestens 30 Menschen gezählt, die in der Straße von Gibraltar ertrunken sind, und fünf, die bei dem Versuch starben, die Zäune um Melilla zu überklettern, seit Anfang 2012 waren es 41.

Ist es der Versuch trotzdem wert? „Ja“, sagt Tresor. Hat er keine Angst? „Doch. Aber ich habe keine Angst vor meiner Angst.“ Um acht Uhr soll es losgehen, die Fahrer sind bestellt, „Motormafia“ nennen die Afrikaner sie, eher im Scherz. Auf Druck der EU hat Marokko die Schleppergesetze verschärft, Fluchthelfern drohen bis zu zehn Jahre Haft. Die letzten Kilometer zum Strand sind deshalb teuer: umgerechnet 300 Euro für eine Gruppe von sieben Personen. Ein mafiöses Geschäft? „Nein“, sagt Colins, er gehört zu Tresors Gruppe. „Der Preis ist fix, so kalkulieren sie ihr Risiko.“

Polizei und Armee sind doch unterwegs

Am Morgen telefonieren alle im Raum mit Freunden, die schon in der Nacht in Richtung Strand gestartet sind. Der Empfang ist schlecht, sie drängen sich am Fenster, lehnen sich mit den Handy am Ohr hinaus. Die Nachrichten sind nicht gut. Doch viel Polizei auf den Straßen, heißt es. Stunde um Stunde verzögern sie ihren Aufbruch. „Wir können es nicht riskieren, wir haben kein Geld mehr, wir dürfen das Material nicht verlieren“, sagt Tresor. Es kann dauern, die Stimmung ist miserabel bis angespannt. Auch wenn der Islam in Marokko moderat ausgelegt wird, scheint das Opferfest allen heilig: Kein Geschäft ist geöffnet, kaum ein Mensch ist auf der Straße.

Doch es gibt Ausnahmen. Graue Geländewagen von Armee und Polizei stehen alle paar Kilometer quer über der Nationalstraße 16 an der Küste zwischen Tanger und der spanischen Exklave Ceuta, die Beamten prüfen, wer in den vorbeifahrenden Autos sitzt. Auf Kilometer 9 läuft eine Gruppe von Kongolesen, die vom Strand zurückkehrt. Sie war mit Freunden unterwegs, doch die sind entweder verhaftet oder auf dem Meer, sagen sie.

Den ganzen Mittwoch und ganzen Donnerstag verhaftet die Polizei an den Stränden rund um Tanger Migranten. Bei Kilometer 27, über dem Strand von Oued Alian, steht eine heruntergekommene kleine Polizeistation auf einem Hügel über der Küste. Dort stehen 50 gefangene Subsaharis hinter zwei weißen Bussen, ein paar Soldaten bewachen sie, sie rufen: „keine Fotos“. Nach einiger Zeit erklären sie, die Afrikaner hätten versucht, das Meer zu überqueren, das sei illegal, nun kämen sie zum Verhör in das Kommissariat. Und dann? Keine Auskunft. „Hey, kommt her, habt ihr Angst vor uns?“, ruft einer der Festgenommenen, andere rufen etwas von Menschenrechtsverletzungen, nach rund zwanzig Minuten müssen sie die Busse besteigen, der Einsatzleiter setzt sich mit einem großen Stapel roter Pässe in der Hand in sein Auto und fährt hinterher.

Zur selben Zeit, etwa 30 Kilometer weiter östlich, wird Helena Maleno Augenzeugin, wie etwa 300 Migranten versuchen, vom marokkanischen Findeq aus schwimmend die spanischen Nachbarstadt Ceuta zu erreichen; wie der Präfekt von Ceuta später erklärt, einer der bisher größten Versuche dieser Art. In der Vergangenheit hatten die Migranten immer wieder Glück. Heute nicht: Alle werden von der marokkanischen Gendarmerie aufgehalten, es gibt etliche Verletzte. „Die Polizei hat alle in die Gefängnisse von Tetouan und Tanger gebracht, auch die Verletzten“, sagt Maleno. Zwei Stunden zuvor war eine Gruppe von elf Kamerunern in Tanger mit einem Schlauchboot gestartet, sie melden sich später bei Freunden in Boukhalef und berichten, die Küstenwache habe sie derart rabiat gestoppt, dass ihr Boot kenterte und ein Baby ertrank.

Die Zentrale der Küstenwache liegt im Altstadthafen von Tanger. Seit Mittwochvormittag ist zu beobachten, wie Busse die Migranten anliefern und wieder abtransportieren. Die große Zelle direkt neben dem Eingangsraum ist voll mit Aufgegriffenen, die hinter dicken Gitterstäben stehen. Ein paar der Männer aus der Wohnzimmerbar aus Boukhalef sind unter den Gefangenen.

Der Kommandant heißt Hicham, seinen Nachnamen will er nicht sagen und auch sonst nichts. Auch ein Schreiben des marokkanischen Außenministeriums hilft nicht weiter. Was mit den Gefangenen geschieht, unter welchen Bedingungen sie abtransportiert werden, was ist mit den Schilderungen über die Misshandlungen, den Todesfall, die Verletzten, die Passdiebstähle? Kein Kommentar.

Nach Stunden lässt sich Kommandant Hicham dann doch hinreißen. „Es sind keine Gefangenen, wir verhören sie nur. Wir bringen sie in die marokkanischen Städte, aus denen sie gekommen sind. Keine Abschiebung“, behauptet er. Später ruft einer der Gefangenen seine Freunde in Boukhalef an. Sie sind auf dem Weg nach Oujda, der Grenzstadt zu Algerien, wohin Marokko alle subsaharischen MigrantInnen abschiebt.

Gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP erklärte das Innenministerium in Rabat am Freitagmorgen, dass während der ersten beiden Tage des Opferfestes etwa 700 Migranten rund um Tanger bei dem Versuch verhaftet wurden, nach Spanien zu gelangen. Die spanische Küstenwache berichtet, im selben Zeitraum 50 Migranten in spanischen Gewässern aufgegriffen und an Land gebracht zu haben.

Einige von ihnen melden sich am Abend in Boukhalef. Sie waren in einer Gruppe von acht in einem Boot und haben es sicher bis nach Algeciras in Andalusien geschafft. Die Nachricht macht sofort die Runde.

Das Boot im Wald, nahe am Meer

Am Abend sitzt die Gruppe um Tresor noch immer in ihrem Appartement, ihr Schlauchboot immer noch in der Decke eingewickelt. Colins lässt sich von einem Freund den Schriftzug „I love Jesus“ auf dem Unterarm tätowieren, die einzige freie Stelle ist neben einem schon eintätowierten Frauennamen, so dass das „Jesus“ in der zweiten Zeile etwas untergeht.

Die ganzen letzten Tage haben sie telefoniert, die Nachrichten über die Polizeieinsätze verfolgt. Nicht alle Marokkaner haben Schafe gegrillt. „Es war zu viel Armee, zu viel Polizei, Verhaftungen“, sagt Tresor.

Am nächsten Tag verstecken er und seine Freunde ihr Boot in einem Wäldchen nahe am Meer. Ein kleiner Schritt. Er will nicht mehr lange warten.

Christian Jakob, 34, ist froh, dass er mit der Fähre nach Spanien zurückfahren konnte

Julian Röder, 32, ist müde vom Ruf des Muezzins