piwik no script img

Archiv-Artikel

Boom der Stiftungen

Dresdener Jahrestagung befasst sich mit Demografie. Berliner Philosoph Gerhardt rät zu mehr Gelassenheit

DRESDEN taz ■ „Die Stiftungen bilden die Avantgarde, wenn es um Lösungsansätze für die demografischen Probleme in Deutschland geht.“ So behauptete es Hans Fleisch, Generalsekretär des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen, auf dem derzeit in Dresden stattfindenden Stiftungstag.

Stiftungen großer Konzerne unterstützen vor allem beschreibende und politikberatende Projekte, wie es beispielsweise die Bosch-Stiftung mit ihrem Familienuntersuchungen tut. Eine wachsende Zahl kleinerer Stiftungen befasst sich auch mit praktischen Projekten des Zusammenlebens der Generationen, der Bildung für Ältere oder der Ausländerintegration.

Indirekt scheinen die Stiftungen indessen von der Kinderlosigkeit zu profitieren. Vorstandsvorsitzender Fritz Brickwedde wollte zwar keinen direkten Zusammenhang zum wachsenden Geldvermögen herstellen, aber die Zahl der privatrechtlichen Stiftungen ist im Vorjahr erneut um 880 auf knapp 13.500 gestiegen.

Ihrer Philosophie gemäß sehen die Stiftungsvertreter Lösungen für das „Unterjüngungsproblem“ vor allem im zivilgesellschaftlichen Engagement und in einem Mentalitätswandel. Diskussionsforen auf dem Stiftungstag erschütterten jedoch Behauptungen, es komme weniger auf die ökonomischen und staatlichen Rahmenbedingungen an. Akademikerinnen berichteten von „Mobbing gegen Mütter“ und von ihren Problemen, einen Partner zu finden, der auf Karriereambitionen zugunsten eigener Kinder verzichten würde.

Den Negativrekord in Sachen Kinderlosigkeit halten nach Angaben des Bielefelder Bevölkerungswissenschaftlers Herwig Birg die Journalisten. 60 Prozent der männlichen und 54 Prozent der weiblichen Medienvertreter bleiben ohne Nachwuchs. Fiskalisch seien Kinderlose faktisch vielfach besser gestellt, sagte der Professor. „Menschen mit Kindern unterstützten jeden Kinderlosen mit etwa 75.000 Euro netto.“

Eine dauerhafte Kompensation der Geburtenausfälle durch Einwanderung von Fachkräften lehnte Birg als „demografischen Kolonialismus“ ab. Demograf Birg hielt dem Berliner Philosophen entgegen: „Wenn alle auf der Welt sich so verhalten würden wie ein Drittel der Deutschen, gäbe es in 110 Jahren keine Weltbevölkerung mehr.“

Für mehr Gelassenheit plädierte der Philisoph Volker Gerhardt von der Berliner Humboldt-Universität. Er wandte sich gegen eine Zeugungsdiktatur und riet angesichts aufgeregter Zukunftsdebatten: „Jetzt leben.“ Die Staaten der alten Welt würden den Entwicklungsländern doch gewissermaßen ein Vorbild geben, das Problem der Überbevölkerung zu lösen. Denn für sechs Milliarden Menschen auf europäischem Wohlstandsniveau reichten die Ressourcen dieser Welt nicht aus.

Gegen eine rein fiskalische Betrachtungsweise wandte sich auch der sachsen-anhaltische Finanzminister Jens Bullerjahn (SPD), der sich seit Jahren mit den demografischen Problemen seines Bundeslandes beschäftigt. „Kinder bedeuten immer Verantwortung und zusätzliche Belastung, die kein Staat ganz abnehmen kann“, sagte Bullerjahn. Da wollte auch Demograf Birg nicht widersprechen.

MICHAEL BARTSCH