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Archiv-Artikel

Kokablätter gegen die Langeweile

EU-Lateinamerika-Gipfel in Wien endet ohne interessante Ergebnisse. Gastgeber Schüssel: Der Gipfel an sich ist ein Erfolg. Chávez und Morales wollen höher hinaus

WIEN taz ■ Das Beste am Lateinamerikagipfel, resümierte Venezuelas Staatschef Hugo Chávez Samstagabend beim Abschluss des Alternativgipfels, sei das Mädchen gewesen, das offenbar Néstor Kirchner aus Argentinien oder Brasiliens Lula geschickt habe. Die argentinische Samba-Königin Evangelina Carrozzo, die sich als Journalistin eingeschmuggelt hatte, tauchte plötzlich vor den zum Familienfoto aufgestellten Staatschefs auf. Neben einem textilarmen Samba-Bikini trug sie ein Greenpeace-Transparent gegen die Verseuchung des Río Uruguay durch eine europäische Zellulosefabrik. Besonders für die Fotografen war es zweifellos der Höhepunkt auf einer sterbenslangweiligen Konferenz, als deren wichtigstes Ergebnis der Beschluss gefeiert wurde, Assoziierungsgespräche zwischen EU und Zentralamerika aufzunehmen.

Das größere Ziel, ein Freihandelsabkommen zwischen EU und dem wichtigsten Wirtschaftsblock Südamerikas, dem Mercosur, zu schließen, war schon lange vor dem Gipfel aufgegeben worden. Beide Regionen kämpfen mit internen Problemen. Über die vage Selbstverpflichtung, das Handelsvolumen zwischen den (Sub-)Kontinenten in den nächsten fünf Jahren zu verdoppeln, ging die auch sonst eher unverbindliche Schlusserklärung nicht hinaus. Gastgeber Wolfgang Schüssel erklärte mangels konkreter Beschlüsse die vielen bilateralen Gespräche zum wichtigsten Ergebnis. Die angepeilte Handelsverdoppelung diene vor allem den neuen Generationen: „Wenn wir 100 Millionen Arbeitsplätze schaffen, werden diese jungen Menschen zugute kommen.“ Die Europäische Entwicklungsbank EBRD wolle außerdem Klein- und Mittelbetriebe fördern. Mit speziellen Programmen für die indigene Bevölkerung und andere Minderheiten will man dem Umstand Rechnung tragen, dass die Globalisierung in der derzeitigen Praxis offenbar doch vielen mehr schadet als nützt.

Genau das war Thema auf unzähligen Diskussionen, die wenige Kilometer vom Konferenzzentrum entfernt auf dem Alternativgipfel stattfanden. Dort traten bei der Schlussveranstaltung Kubas Vizepräsident Carlos Lage, Boliviens neuer Präsident Evo Morales und Venezuelas Hugo Chávez auf. Frankreichs streitbarer Bauernführer José Bové verteilte auf dem Podium Kokablätter, die medienwirksam gekaut wurden. Und Evo Morales setzte sich vehement für die Entkriminalisierung dieses für die Andenvölker heiligen Blattes ein, aus dem neben Kokain viele nützliche Produkte gewonnen werden können. Außerdem verteidigte er die Verstaatlichung der Erdgasreserven.

Der ehemalige Kokabauernführer erntete für seine relativ kurze Ansprache mehr Applaus als der anschließend auftretende viel wortgewaltigere Hugo Chávez. Der kam in zwei Stunden vom Hundertsten ins Tausendste, sagte das Ende des US-Imperiums für dieses Jahrhundert voraus, gab amüsante Anekdoten aus dem Privatleben von Fidel Castro zum Besten und schloss schließlich mit einem konkreten Vorschlag: Die globalisierungskritische Zivilgesellschaft solle die Debatte mit dem alternativen lateinamerikanischen Integrationsbündnis ALBA aus Kuba, Venezuela und Bolivien auch abseits von Gipfeln fortsetzen und vertiefen. RALF LEONHARD