: Leben in der Warteschleife
Schon wieder gescheiterte Idealisten: Zu viel Tschechow stellt die Lust am Schauspiel auf eine harte Probe. So glich das Theatertreffen 2006 in Berlin mehr der Bestandsaufnahme eines bemühten Jahrgangs, der am gesellschaftlichen Stillstand wie auf einem zähen Knochen kaut, denn einem Fest
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Zu viele Birken, zu viele Pollen: Nein, es lag nicht allein an der Heuschnupfenbelastung, dass beim Theatertreffen 2006 die Sinne langsam stumpf zu werden schienen. Drei Einladungen von Tschechow-Stücken waren zwei zu viel. Das erste, der „Iwanow“ von Dimiter Gotscheff (Volksbühne Berlin), blieb das beste, das die zerborstenen Träume noch einmal weh tun ließ. Ab da machten die Inszenierungen aus dem Herzen der Theaterklassik nicht mehr satt und die Ungeduld beim Warten auf das Essen, mit dem Tschechows Figuren des öfteren ihre innere Leere stopfen wollen, lud all zu sehr zur Identifikation ein. Schon wieder verkrachte Dorfschullehrer, schon wieder eine Ehe als Desillusionierungsanstalt, zukunftslose Offiziere, Birken, Nebel, Alkohol – schon nach kurzer Zeit schieben sich die Bilder des „Platonow“ der jungen Regisseurin Karin Henkel (Schauspiel Stuttgart) und der „Drei Schwestern“, denen Jürgen Gosch (Schauspiel Hannover) oft einfach beim Warten und Vergehen der Zeit in einem Bühnenraum ohne Fluchtweg zusehen ließ, ineinander.
Dabei ist es nicht mal so, dass die Inszenierungen nicht auch ihre Stärken gehabt hätten: Für „Platonow“ nahm zum Beispiel der Hauptdarsteller Felix Goeser ein, der sich für die Zumutung, ihm den langen Weg des Selbstekels zu folgen, immer schon zu entschuldigen scheint und am Ende des Theatertreffens mit dem Alfred-Kerr-Darsteller-Preis ausgezeichnet wurde. Für die „Drei Schwestern“ sprach ihr gänzlich unprätentiöses Spiel, das den zeitlichen Abstand zum Drama vergessen ließ. Denn kein Zweifel, Tschechow ist uns nah in seinem Abschneiden aller Entwicklungsmöglichkeiten. Allein die Dramaturgie des Festivals ließ ihnen keine rechte Chance, anders denn als Wiederholung gesehen zu werden.
Es passierte in diesem Jahr zu wenig zwischen den Stücken. Es fehlte ein Spannungsbogen, der wie in anderen Jahren das Sehen von Stück zu Stück anreicherte. Diesmal lagen die Qualitäten der „bemerkenswerten Inszenierungen“, nach denen eine Jury von sieben Theaterkritikern eine Spielzeit lang gesucht hat, zu weit auseinander – als ob sie nicht in einer Liga spielten.
Inhaltlich am interessantesten blieben so zwei Arbeiten, die nach einem unmittelbaren Zugriff für die Beschreibung von Gegenwart suchten: „Der Kick“ und „Wallenstein“. Am wenigsten Ruhe lässt einem „Der Kick“ von Andreas Veiel und Gesine Schmidt, der den Fall eines Mordes im Dorf Potzlow 2002 in der Uckermark aufgreift. Veiel, den man schon als Filmregisseur kennt, bringt die theatralischen Mittel fast zum Verschwinden: Nur zwei Schauspieler übernehmen die Texte der Freunde, Nachbarn und Familien der Mörder und des Ermordeten, mit denen Veiel und Schmidt lange geredet haben. Dass deren Geschichten sich so sehr ähneln, ist das eigentlich Schmerzhafte: die Demütigungen und Niederlagen, die über Generationen nie ausgeglichen werden konnten. Dem Zuschauer macht vor allem die Erkenntnis zu schaffen, dass, je mehr er weiß, je besser er die Menschen versteht, desto schwerer bis unmöglich wird ein moralisches Urteil. „Der Kick“ (eine Koproduktion vom Gorki Theater Berlin und dem Theater Basel) stellt unsere Mitleids- und Urteilsfähigkeiten auf eine härtere Probe als jede andere Inszenierung, und darin ist er herausragend.
Mit „Wallenstein“ (produziert vom Nationaltheater Mannheim und dem HAU Berlin) war das Regieteam Rimini-Protokoll (Hegard Haug und Daniel Wetzel), zum zweiten Mal zum Theatertreffen eingeladen. Sie arbeiten nicht mit Schauspielern, sondern mit Darstellern, die ihre eigene Geschichte als Kapital einbringen, um einen thematischen Zusammenhang auszuleuchten. Diesmal geht es, analog zu den Figuren in Schillers „Wallenstein“, um politisches Kalkül, militärische Hierarchien, Verrat und Verleugnung. Mit dabei sind Vietnamveteranen, deren politischen Kampf gegen den Krieg man fast schon vergessen hatte, ehemalige deutsche Soldaten, ein abservierter CDU-Kandidat und ein Polizeichef: Ein spannender Bilderbogen entsteht so, der anders als die Intimitäts- und Bekennerformate des Fernsehens seine formalen Mittel analytisch, distanzierend und auch zum Schutz der Personen einsetzt. Nebenbei erfährt man, wie oft bei Rimini-Protokoll, wieder viel über die Dramaturgien des Alltags. Allein es blieb auffallend, dass bei diesem Theatertreffen außer Rimini-Protokoll niemand aus dieser Beziehung zwischen Leben und Theater Kapital schlug.
Die Einladung von William Forsythes wunderbarem Tanzstück „Three Atmospheric Studies“ sorgte zwar für einen Höhepunkt, allein ohne größere Spuren im diskursiven Prozess um das Theater zu hinterlassen.
So blieb „Hedda Gabler“, von Thomas Ostermeier an der Berliner Schaubühne inszeniert, ohne ernsthafte Gegenspielerin. Nach all den zeitverzögerten Tschechows war man richtig froh um den Druck und das Tempo, das hier beim Weg durch Gemeinheit und Selbstzerstörung eingeschlagen wurde. Endlich ein Biest, das aus dem Leiden an der eigenen Ziellosigkeit Funken der Bosheit schlägt. „Hedda Gabler“ sieht nach diesem Theatertreffen noch ein bisschen besser aus als zuvor. Die junge Schauspielerin Katharina Schüttler brachte auch die einzige Frauenfigur auf die Bühne, die sich noch etwas erfrischend Eigenes bewahrt hat und kein schon verbrauchtes Weiblichkeitsbild bediente.
So war das Theatertreffen eher eine Bestandsaufnahme ohne große Aufregung – als hätte der Theaterdiskurs in der Ekeldebatte zuvor sein Streitpotenzial aufgebraucht. Die Höhe der Aufmerksamkeit, die der Skandal erreicht, blieb aus; sicher auch, weil die Maßstäbe der Theatervielseher, und das sind Theatertreffenbesucher nun mal, dem in die Schmuddelecke abgeschobenen „Macbeth“ von Jürgen Gosch gelassener entgegennahmen.