: Ein Träumer am Handy
THEATER Nach dem Attentat: Das Ballhaus Naunynstraße zeigt „Ich rufe meine Brüder“ von Jonas Hassen Khemiri aus Schweden
Am 12. Dezember 2010 sprengte sich in einer belebten Stockholmer Einkaufsstraße ein Selbstmordattentäter in die Luft. Wie durch ein Wunder kam außer dem Täter, einem gebürtigen Iraker aus Großbritannien, niemand zu Schaden. Den Autor Jonas Hassen Khemiri, seinerseits Schwede mit tunesischen Wurzeln, hat der Anschlag damals dazu bewegt, gleich in der Woche darauf den Prosatext „Ich rufe meine Brüder“ zu schreiben, in dem das Selbstmordattentat den Rahmen für den schmerzhaften Selbstfindungstrip eines jungen Mannes abgibt.
Der Text, dessen Figuren, bei aller Ernsthaftigkeit mit viel Humor gezeichnet sind, wurde in Schweden bereits mehrmals für das Theater adaptiert. In Deutschland brachte nun das Ballhaus Naunynstraße den Text auf die Bühne. Der Regisseur Michael Ronen hat das Material gestrafft, erzählenden Text gestrichen und statt dessen in das animierte Bühnenbild verlegt. Comicstripartige Videos in kompromisslosem Schwarz-Weiß ergänzen die Dialoge, dienen als Kulisse und Offtext und verleihen dem Abend einen überzeugenden ästhetischen Rahmen. Nicht zuletzt spiegelt die Comicästhetik auch die seelische Unreife dieses jungen Mannes.
Wir erleben einen Tag im Leben von Amor (Jerry Hoffmann), der, nachdem in Stockholm jener Selbstmordanschlag passiert ist, ziellos durch die Stadt streift und seine „Brüder“ anruft. Seinen besten Freund zum Beispiel (Jan Walter), der Amor eigentlich zunehmend auf die Nerven geht, seit er Vater geworden ist und nur noch von seiner Tochter spricht. Oder seine Jugendliebe (Marion Reiser), bei der er nie hat landen können. Und seine temperamentvolle Kusine (Nora Abdel-Maksoud), die am Mittelmeer ein Ferienhaus baut und ihn losschickt, um das abgenutzte Bohrfutter des Familienbohrers zu reklamieren.
All diese Gespräche finden öffentlich statt, denn Amor ist ja in der Stadt unterwegs. Und während er seine privaten kleinen Beziehungsgeschichten über das Handy betreibt, ist er in Wirklichkeit ausgesetzt in einer Welt, die ihm seit dem Anschlag misstrauisch bis feindlich gegenüberzustehen scheint. Der Typ am Bohrfutter-Reklamationsschalter, der in Amors Augen so aussah wie ein „Bruder“, erweist sich als unflexibler Prinzipienreiter. Eine Polizistin oberserviert Amor und verfolgt ihn auf seinem Weg durch die Innenstadt, da er mit seinem Rucksack und seinem südländischen Aussehen einen verdächtigen Eindruck macht. Der seltsame Tag in der plötzlich feindlichen Stadt mündet in eine Gewaltfantasie. Oder ist diese Gewalt gar keine Fantasie, genauso wenig wie das Gespräch, das Amor mit seiner toten Großmutter führt?
Khemiris Stück, das von Beginn an gekonnt mit den Kommunikationsebenen spielt, führt diese Kommunikation schließlich in einer lässigen poetischen Schleife zu ihrem Sender zurück. Spricht Amor, der doch unablässig mit anderen redet, nicht letztlich nur mit sich selbst?
Dem versponnenen Selbstbild dieses etwas verpeilten jungen Mannes jedenfalls, den Jerry Hoffmann mit einer manchmal herzzerreißend kindlich anmutenden Naivität spielt, wird an diesem besonderen Tag in Stockholm unbarmherzig der Spiegel der Außenwelt vorgehalten. Es ist ein Coming-of-Age der etwas anderen Art. KATHARINA GRANZIN
■ Nächste Vorstellungen: 30. 11. und 1.–4. 12., 20 Uhr