: Die totale Pleite
MEXIKO Der neue Präsident sollte die Gewaltspirale beenden, für dieses Versprechen wurde er gewählt. Doch die Bilanz nach einem Jahr ist bitter
■ Jahrgang 1959, ist als Journalist, Publizist und Pressereferent in Berlin tätig. Seine Schwerpunkte: Mexiko, Menschenrechte, Migration und Flucht, organisierte Kriminalität, internationale Politik, soziale Bewegungen.
Er sollte mehr Sicherheit schaffen und dafür sorgen, dass die Gewalt eingedämmt wird. Das hatten jene Bürgerinnen und Bürger Mexikos erwartet, die Enrique Peña Nieto zum Präsidenten wählten. Mit der Rückkehr der ehemaligen Staatspartei PRI, so die Hoffnung, würde wieder Ruhe einkehren. Doch nach einem Jahr fällt die Bilanz schlecht aus. Morde, Entführungen und Erpressungen haben sogar zugenommen.
Sechs Jahre lang hatte Peña Nietos Vorgänger Felipe Calderón das Militär gegen die Kartelle mobilisiert. Das Ergebnis: Mehr als 70.000 Menschen starben, 26.000 sind verschwunden, Zigtausende wurden entführt. Also versprach Peña Nieto im Wahlkampf, er werde die Armee von den Straßen holen und mit einer bundesweiten „Gendarmerie“ gegen die organisierte Kriminalität vorgehen. Zudem wollte er die Armut bekämpfen, um der Mafia den Boden zu entziehen.
Soldaten und Selbstzensur
Von den sicherheitspolitischen Versprechen ist allerdings bis heute kein einziges eingelöst. Eine „Gendarmerie“ gibt es nicht, und Soldaten patrouillieren weiterhin massiv in den Konfliktgebieten. Eskalieren die Kämpfe zwischen Kartellen, Polizei und autonomen Bürgermilizen, schickt Peña Nietos Regierung noch mehr Armeeeinheiten in die Region. Genau wie sein Vorgänger. Geändert hat sich lediglich der Diskurs: Calderón wollte sich durch die militärische Mobilmachung als starker Mann profilieren, sein Nachfolger will die gewalttätigen Exzesse aus der öffentlichen Debatte heraushalten. Die Medien bat er deshalb, weniger über Hinrichtungen, Massengräber und Schießereien zu berichten. Nicht alle, aber einige Zeitungen und TV-Stationen folgen diesem Vorschlag.
Das mag dem Interesse vieler Menschen entsprechen, die diese Bilder nicht mehr ertragen und sich endlich wieder sicher fühlen wollen. Mit der Wirklichkeit aber hat das nichts zu tun. Im Gegenteil: Während sich die Kartelle früher meist untereinander bekämpften, werden zunehmend Unbeteiligte Opfer der Kriminellen – eine Entwicklung, die im letzten Jahr noch zugenommen hat. Händler müssen Schutzgeld zahlen, Kinder werden entführt, um Lösegeld zu erpressen. Da viele Beamte, Polizisten und lokale Unternehmer in die Mafia verstrickt sind, organisieren sich immer mehr Menschen in Selbstverteidigungsgruppen. Einige dieser Bürgerwehren stehen in einer linken, indigenen Tradition, in ihrer Gesamtheit sind sie aber auch Ausdruck eines gefährlichen Prozesses der Paramilitarisierung. Manche arbeiten selbst für Kartelle oder legale Unternehmen, andere kooperieren mit Landesregierungen oder dem Militär. So etablieren sich weitere bewaffnete Organisationen, die jenseits des Gesetzes agieren.
Radikaler Klientelismus
Besonders brisant ist diese Entwicklung angesichts einer Sozialpolitik, die sich am alten Stil der ehemaligen Staatspartei orientiert. Schon in ihrer 71-jährigen Regierungszeit, in der die PRI in enger Kooperation mit Unternehmen, Gewerkschaften, Bauernverbänden, Militär und Mafia regierte, versorgte die Partei jene Verbände mit Nahrungshilfen, Dünger oder günstigen Krediten, die in ihr korruptes System eingebunden waren. In den zwölf Jahren, in denen die PRI bis 2012 nicht die Bundesregierung stellte, wurden diese Seilschaften zwar geschwächt, in den Ländern existierte das korrupte repressive System dennoch weiter. Mit dem Comeback der Exstaatspartei in Gestalt Peña Nietos bekommt dieser Klientelismus neuen Aufwind. Wer mit der PRI geht, wird alimentiert.
Nach diesem Prinzip funktioniert auch der „Kreuzzug gegen den Hunger“, mit dem der Staatschef die Armut bekämpfen will. Das Sozialprogramm vertieft besonders in ländlichen Regionen Gräben, die ohnehin existieren: Auf der einen Seite stehen jene, die von dem korrupte System profitieren, auf der anderen etwa Bauern, die schon immer mit dem PRI-Nachbarn im Streit liegen, aber auch Gegner von umweltzerstörenden Großprojekten wie dem Bergbau oder indigene Gemeinden, die sich autonom organisieren. Trotz aller unterschiedlichen Interessengemengelage lässt sich die Situation – leicht vereinfacht – auf einen Nenner bringen: Mafia, PRI-Politiker und lokale Unternehmer arbeiten zusammen, um legale oder illegale wirtschaftliche Projekte durchzusetzen. Wer es sich mit der Macht nicht verscherzen und die Nahrungspakete des „Kreuzzugs gegen den Hunger“ bekommen will, spielt mit. Zumal man Gefahr läuft, die Brutalität zu spüren zu bekommen, mit der diese Kräfte ihre Interessen durchsetzen. In diesem Kontext sterben viele, die in den Medien fälschlicherweise als „Opfer des Drogenkriegs“ bezeichnet werden.
Blindes Durchregieren
Für Spannungen sorgen auch Peña Nietos Wirtschaftsreformen. Bei wichtigen Projekten hat er sich zwar mit einem „Pakt für Mexiko“ Unterstützung von den Spitzen der anderen beiden großen Parteien zusichern lassen, in der Bevölkerung aber rumort es. So wehren sich Gewerkschafter, Linke und sogar einige PRI-nahe Verbände gegen die Öffnung des staatseigenen Erdölkonzerns Pemex für internationale Investoren. Das Unternehmen ist Mexikos wichtigste Finanzquelle und gilt vielen als das Symbol nationaler Unabhängigkeit. Bereits die jüngsten Lehrerproteste gegen eine Bildungsreform haben Konsequenzen für das gesellschaftliche Leben gehabt. Im Vergleich zu den anstehenden Kämpfen gegen die Pemex-Privatisierung sind sie jedoch nur kleine Vorboten. Demonstrationen, Blockaden und Streiks werden mit Sicherheit Teile des Landes lahmlegen. Ob Peña Nieto sich durchsetzt, ist fraglich.
Anstatt jedoch andere Wege der Modernisierung des maroden Betriebs zu suchen, setzt er auf Konfrontation. Und anstatt im Krieg gegen die Kartelle zu deeskalieren, stärkt er das gefährliche Geflecht von lokaler Politik, Wirtschaft und Mafia. Wer die Kriminalität in den Griff bekommen will, muss jedoch dafür sorgen, dass nicht nur die eigene Klientel eine wirtschaftliche Perspektive hat und indigene Gemeinden sowie oppositionelle Gewerkschafter respektiert werden. Und er muss die Korruption bekämpfen. Das alles ist von Peña Nieto nicht zu erwarten. Friedliche Verhältnisse wird es deshalb in Mexiko so schnell nicht geben. WOLF-DIETER VOGEL