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Archiv-Artikel

Godot ist gerade gegangen

EXISTENZ Brüderschaft trinken und dem Tod ins Auge blicken: Auf dem „Nordwind“-Festival im HAU zeigte der litauische Regisseur Oskaras Korsunovas eine radikale Fassung von Maxim Gorkis „Nachtasyl“

Im Nachtasyl wird nicht lange herumgeredet, es geht ums Wesentliche: Wozu der Mensch? Was ist Wahrheit? Und: Wo ist der Wodka?

VON KATHARINA GRANZIN

Die Schauspieler warten schon auf ihren Plätzen an einer langen Tafel, als das Publikum den Saal des HAU2 betritt. Der lange Tisch, der das Bühnenbild ausfüllt, steht fast direkt vor der ersten Sitzreihe; dazwischen ist nur ein schmaler Gang frei geblieben.

Da sitzen sie dicht bei uns, die Menschen aus dem Nachtasyl, und werden nicht fertig mit ihrem Leben. Es wird nicht lange herumgeredet, es geht ums Wesentliche: Wozu der Mensch? Was ist Wahrheit? Wo ist der Wodka? Das sind Fragen, die notwendig aus der Verzweiflung an der Vergeblichkeit der menschlichen Existenz erwachsen. „Nachtasyl“ ist kein optimistisches und auch kein revolutionäres Stück. Maxim Gorki schrieb es im Jahr 1901.

Dreißig Jahre später distanzierte er sich davon, was seinen Grund unter anderem in der zentralen Rolle einer religiös motivierten Figur hatte, die jedoch in der radikalen Bühnenversion von Oskaras Korsunovas durch Abwesenheit glänzt: Es ist die Figur des alten Pilgers Luka, der bei Gorki als geradezu biblische Gestalt, als Prophet auftritt, philosophiert und wieder verschwindet. Bei Korsunovas ist „der Alte“, wie er in den deutschen Übertiteln genannt wird, längst fort. Das übrige Personal des Stückes ist zurückgelassen worden, um zu saufen, zu raufen, sich über die von dem „Alten“ verkündeten Wahrheiten in die Haare zu kriegen und schließlich um dem Publikum seine Geschichten zu erzählen.

Korsunovas hat Gorkis Stück extrem reduziert, von den Figuren fast die Hälfte und die Handlung praktisch ganz gestrichen. Seine Version setzt im vierten und letzten Akt von „Nachtasyl“ überhaupt erst ein, bleibt aber durchsetzt mit Dialog aus den anderen Akten. Der Schauspieler, der sich am Ende erhängt, erzählt die Geschichte seines Scheiterns und hadert mit seinem Mangel an Talent. Die Prostituierte fantasiert von einer großen Liebe, die sie erlebt habe, und wird von den anderen unbarmherzig ausgelacht, was sie aber nicht davon abhält, sich einen jungen Mann im Publikum auszugucken und ihn offensiv anzuflirten. Die unsichtbare Linie zwischen Bühne und Zuschauerraum ist durchbrochen. Bald darauf trinkt ein Darsteller mit einem Zuschauer Brüderschaft und verteilt Oblaten an die Allgemeinheit; ein anderer schenkt glasweise Wodka aus.

Wir sind Teil der großen Gemeinde der Zurückgelassenen geworden und nehmen an einem desolaten letzten Abendmahl teil. Zu Beginn des Abends sitzen die meisten auftretenden Personen am Tisch, gegen Ende harren die wenigsten noch dort aus, während der Großteil am fernen Bühnenende Platz genommen hat. Zu Beginn war „der Alte“ wohl auch gerade erst weg. Die russische Kritikerin Marina Davydova hat in ihrer Besprechung von Korsunovas‘ „Nachtasyl“-Inszenierung auf eine Parallele zu Becketts „Warten auf Godot“ hingewiesen. Während aber Becketts Protagonisten in ihrem Warten unverzagt bleiben, so haben Korsunovas’ Gorki-Figuren jegliche hoffende Erwartung fahren lassen müssen. Godot ist schon da gewesen, und alles ist wie zuvor.

Das Ensemble aus Vilnius spielt mit einer Intensität, die jegliche theatrale Uneigentlichkeit ausschließt. So wie von Gorkis Stück nur der verzweifelte philosophische Bodensatz geblieben ist, ist den Schauspielern nichts geblieben als eine ungeschützte Wahrhaftigkeit. Alle sprechen ihre Sätze mit einer Unbedingtheit, die jeden spielerischen Umgang mit dem Medium Theater ausschließt. Die Suche nach der Wahrheit kann nicht nur im Text liegen. Der Text aber, dessen semantischer Gehalt nur durch Vermittlung der deutschen Übertitel bei uns ankommt, wird noch verstärkt durch ein Laufband mit Leuchtschrift, auf der einzelne Sentenzen aus den Dialogen aufgenommen und die Vorstellung hindurch in Endlosschleife abgespielt werden: „Der Mensch! Großartig!“, oder „Das Kamel hat keine Ohren“, oder schlicht „Makrobiotik“.

Auch die doppelte Verstärkung der Sprache bringt den Menschen an diesem Abend seiner Wahrheit nicht näher. An seinem Ende steht auch im „Nachtasyl“ der Tod. Bei Korsunovas allerdings rezitiert der tote Schauspieler zum Abschluss Shakespeare. Das ist vielleicht eine Art Antwort, sicher eine Art Trost.