: Ein System steht vor Gericht
KEVIN-PROZESS Ein beginnendes Verfahren vor dem Landgericht ruft Bremen bundesweit wieder als Stadt in Erinnerung, in der ein Kleinkind in staatlicher Obhut starb
Der Tod des Kleinkindes Kevin hat eine lange Vorgeschichte.
■ Januar 2004: Kevin kommt zur Welt. Seine Mutter ist drogenkrank.
■ November 2005: Die Mutter stirbt. Kevin kommt kurz in ein Heim. Das Jugendamt wird zum Vormund. Wenig später kann Kevin wieder zum Ziehvater.
■ April/Mai 2006: Vermutlicher Todeszeitpunkt.
■ 10. Oktober 2006: Polizisten finden Kevin tot im Kühlschrank.
■ April 2007: Gegen den Ziehvater wird Anklage erhoben. 2008 bekommt er zehn Jahre Haft. (dpa)
VON JAN ZIER
Er versteckt sich nicht. Schutzlos blickt er in alle Kameras der örtlicher Medien, der überregionalen Fernsehsender. Bald werden sie sein Gesicht weit verbreiten, seinen Namen überall vermelden. Denn Bert K. ist jetzt eine Person des öffentlichen Interesses. Er war: der Amtsvormund von Kevin. Seit gestern steht der 67-Jährige vor dem Landgericht, muss sich wegen „fahrlässiger Tötung“ verantworten.
Bert K. ist ein freundlich wirkender älterer Herr mit weißem Vollbart, schütterem Haar und einem etwas kleinkarierten Jacket. Der 67-jährige Sozialarbeiter in Rente ist der Typ des korrekten, sympathischen Großvaters. Er ist hier, weil er dem kollektiven Versagen des Staates im „Fall Kevin“ ein Gesicht geben soll, zugleich Stellvertreter ist für viele Amtsvormünder. Kevin war einer von 230, die K. zu betreuen hatte. „Ich habe meinen Beruf geliebt und ernstgenommen“, wird er später sagen.
Vor Gericht verzieht er keine Miene, zeigt kaum eine äußerliche Emotion. Ein wenig nervös, vielleicht, aber äußerlich gefasst. Die Stimme ist fest, als er eine kurze Erklärung abgibt. Alles Weitere – wird er später sagen, wenn viele Kameras wieder abgereist sind. Die Strafkammer ist bemüht, die Emotionen aus dem Verfahren herauszuhalten.
Drei Jahre hatte K. Zeit, sich auf diesen Tag vorzubereiten. So lange ist es her, dass die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat. Sie ist 123 Seiten lang. Und ist doch nur der sichtbare Teil eines Aktenbestandes von mehreren tausend Seiten. In aller Ausführlichkeit wird dort das kurze Leben des Kleinkindes nachgezeichnet, all die Stationen notiert, an denen es Hinweise auf Kindesmisshandlung gab. Alles Zeitpunkte, sagt die Anklage, an denen den drogenkranken Eltern das Kind hätte weggenommen werden müssen. Der Beschuldigte, sagt die Staatsanwältin immer wieder, „unternahm daraufhin nichts“. Doch der Beschuldigte, das ist in vielen Fällen J., der „Case-Manager“ Kevins. Aber der 58-Jährige wird sich nicht verantworten – können. Er ist dauerhaft verhandlungsunfähig.
Zweimal wird an diesem Tag die ganze Litanei eines kurzen Lebens vorgetragen, zuerst in der Anklage, und dann noch mal, als das Urteil gegen den Ziehvater Kevin verlesen wird. Die Stimmung ist gedrückt. Die Anklage akzeptiere er nicht, sagt Bert K. nach ersten Worten des Bedauerns und der Trauer. Sie sei „nicht sachgemäß und nicht fair“, weil, rein retrospektiv. Schon sieht sich der Berufsverband für Soziale Arbeit genötigt, sich „gegen Vorverurteilungen und billige Polemik“ zu wenden und für „profunde Fachlichkeit“ und „gute Arbeitsbedingungen“ zu streiten. In Bremen, das ist bekannt, fehlte es an beidem.
Als Zeuge ist auch der Ziehvater Kevins geladen. Er hoffe, dass alle Beteiligten „ehrlich“ aussagen, sagt Bert K.
Siehe Bericht Seite 6