: Große Affen mit sozialer Ader
EVOLUTION UND ERZIEHUNG Die gemeinschaftliche Kinderbetreuung fördert die menschliche Entwicklung, sagt die amerikanische Biologin Sarah Blaffer Hrdy in „Mütter und andere“
VON KATHARINA GRANZIN
Die Entwicklung eines Wesens wie des Homo sapiens war reichlich unwahrscheinlich. Menschenjungen sind die, im Biologenjargon, kostspieligsten aller Primatennachkommen. Auch in Wildbeutergesellschaften unter den ursprünglichsten Bedingungen verbrauchen Kinder 13 Millionen Kalorien, bis sie im Alter von etwa 18 Jahren in der Lage sind, sich aus eigener Kraft zu ernähren. Menschenaffen dagegen sind gleich nach ihrer Entwöhnung von der Mutterbrust mit durchschnittlich sechs Jahren autarke Wesen. Im Vergleich zu anderen Primaten, bei denen sechs bis acht Jahre zwischen zwei Geburten liegen, pflanzt sich der Mensch – bei den Wildbeutern – doppelt so häufig fort.
„Diese Hyperfertilität“, so Sarah Blaffer Hrdy, „setzt voraus, dass Mütter in den Populationen unserer Vorfahren auf alloelterliche Unterstützung zählen konnten.“ Alloeltern sind alle betreuenden Personen außer der Mutter. Das ist nach ihrer Argumentation der entscheidende Unterschied zwischen uns und den anderen großen Affen, der uns zu jenen machte, die wir heute sind.
1999 erschien Blaffer Hrdys Buch „Mutter Natur“, das bald als Standardwerk gehandelt wurde. „Hrdy füllt eine schmerzliche Lücke in der Theorie von Charles Darwin“, schrieb Susanne Mayer damals enthusiastisch in der Zeit. Als erster umfassender Erklärungsansatz beleuchtete Blaffer Hrdys Buch die weibliche Seite der Evolution. Mit „Mütter und andere“ vertieft die amerikanische Evolutionsbiologin jetzt eine Argumentation, die in „Mutter Natur“ bereits angelegt ist.
Empathische Aufzucht
Im ursächlichen Zentrum der Evolution des modernen Menschen sieht die Autorin die Entwicklung zur Empathie, ohne die keine gemeinsame Aufzucht des Nachwuchses möglich gewesen wäre. Denn hätten unsere Urmütter keine Unterstützung beim Füttern und Tragen ihrer furchtbar schweren und unselbstständigen Nachkommen gehabt, hätten diese niemals das Erwachsenenalter erreicht, und dem Menschen als Spezies wäre es nie gelungen, ein derart großes Gehirn zu entwickeln. Kein anderer Menschenaffe pflegt eine auch nur annähernd so kooperative Form der Jungenaufzucht. Eine Schimpansenmutter etwa vertraut ihr Baby praktisch niemals einem anderen Individuum an, auch nicht der eigenen Tochter.
Da es unter Schimpansenmännchen nicht unüblich ist, die Nachkommen von Rivalen totzubeißen, müssen solcherart bedrohte Babys schnell erwachsen werden. Dass ein Menschenkind langsamer heranreift als jedes andere Lebewesen („vielleicht mit Ausnahme des Grönlandwals“), bedeutet, dass sich in den Urmenschensippen irgendwann ein soziales Klima herausgebildet haben muss, in dem ein Kind über viele Jahre hinweg sicher aufgehoben war. Der „emotional moderne Mensch“, so Blaffer Hrdy, müsse sich somit entwickelt haben, noch bevor es den Homo sapiens gab.
Blaffer Hrdy weist anhand vieler Beispiele nach, dass die Überlebenschancen eines Menschenkinds signifikant steigen, wenn seine Mutter in ihrer eigenen Sippe lebt oder aber die Großmutter mütterlicherseits als Allomutter zur Verfügung steht. Eher nebenbei wird vermerkt, dass wohl auch umgekehrt die Lebenserwartung von postmenopausalen Großmüttern steigt, wenn sie sich in der Jungenaufzucht für die Gemeinschaft nützlich machen. Was männliche Alloeltern betrifft, so leisten bei vielen niederen Affenarten die Männchen wichtige bis unverzichtbare Dienste in der Kinderbetreuung. Bei den Menschenaffen dagegen beschränkt sich der Kontakt höchstens auf ein unbestimmtes In-der-Nähe-Bleiben, sodass der Mensch der einzige Primat ist, der überhaupt das Konzept von „direkter männlicher Jungenfürsorge“, wie es in der nicht durchweg eleganten Übersetzung heißt, kennt. Es ist anzunehmen, dass in der Zeit, bevor der Mensch den Ackerbau erfand, Männer deutlich mehr Zeit mit ihren Kindern verbrachten, als dies moderne Väter im Durchschnitt tun; denn den engsten Kontakt mit ihren Nachkommen haben noch heute Väter in Jäger-Sammler-Gesellschaften. Die Männer des zentralafrikanischen Volkes der Aka, die sich – Blaffer Hrdy bezieht sich auf eine Studie des Anthropologen Barry Hewlett – über die Hälfte der Zeit „in Griffweite“ ihrer Säuglinge aufhalten, halten dabei den absoluten beobachteten Spitzenwert.
Männliche Morphe
Dass diese männliche Fürsorge beim Menschen jedoch „höchst fakultativ“ ist, es bei modernen Vätern mithin eine Skala gibt von (seltenen) Exemplaren, die hingebungsvoll wie ein Marmosettenäffchen den Nachwuchs pflegen, bis zu solchen Individuen, die die Existenz ihrer Kinder gänzlich ignorieren, nimmt Blaffer Hrdy zum Anlass, die Frage in den Raum zu stellen, ob es vielleicht unterschiedliche „Morphe“ von Männern gibt – ein wissenschaftlich bisher noch nicht untersuchter Ansatz.
Die Herausbildung des großen Homo-sapiens-Hirns ist sicher nicht derart monokausal erklärbar, wie die Darstellung in „Mütter und andere“ glauben machen könnte. Doch Blaffer Hrdys Anliegen ist es nicht, letztgültig zu klären, warum der Mensch entstand. „Mütter und andere“ will vor allem die unabdingbare Rolle, die die gemeinschaftliche Kinderfürsorge in der Evolution gespielt haben muss, nachdrücklich betonen. Sympathisch und von vorbildlicher wissenschaftlicher Offenheit ist es, dass die Autorin dabei auch ihre persönliche Involviertheit – als postmenopausale Großmutter, die ihren evolutionären Platz in der Gesellschaft ergründen will – offenlegt. Man folgt ihrer Argumentation gern. Nicht nur weil sie gut geführt ist, sondern auch weil sie das Beste im Menschen von unten nach oben kehrt und zeigt: Die Fähigkeit, für andere zu sorgen, ist nicht nur Müttern vorbehalten. Eine Mutter, die die Erziehung nicht allein bewältigen muss, sondern die kleinen Schreihälse auch mal in andere Hände geben kann, tut, evolutionär gesehen, genau das Richtige.
■ Sarah Blaffer Hrdy: „Mütter und andere“. Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt. Berlin Verlag, Berlin 2010, 537 Seiten, 28 Euro